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Scheidung auf kommunistisch

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Hinter den Kulissen des sich gern puritanisch gebenden Regimes in Ost-Berlin geht es alles andere als prüde zu. Mit 17,1 Ehescheidungen je 10.000 Einwohner hat die DDR im vergangenen Jahr wieder die Spitze In Mitteleuropa gehalten. Frankreich und die Bundesrepublik bringen es „nur“ auf 10,4 und 10,5 beendete Scheidungsverfahren, bezogen auf dieselbe Personenzahl. Innerhalb der DDR hält Ost-Berlin eine einsame Spitzenstellung: dort werden siebenunddreißig Ehen je 10.000 Einwohner geschieden. Das Gefälle zur ehemaligen Provinz Vorpommern ist dabei aufallend, da es dort lediglich elf Scheidungen gab. Die anderen früheren Provinzen, die längst unter den „Bezirken“ aufgeteilt sind, pendeln zwischen 12 und 13. Nur die Sachsen liegen mit 18,3 noch etwas über dem Durchschnitt. An diesen Zahlen wird sichtbar, was sich hinter den Kulissen abspielt: In den beiden Städten Ost-Berlin und Leipzig, mit den meisten Funktionären und Offizieren, gab und gibt es die meisten Ehescheidungen. Das traurige Problem entbehrt nicht komischer Seiten. Wenn sich ein hoher Parteibeamter, Angehöriger des Staatssicherheitsdienstes oder Offizier der Nationalen Volksarmee scheiden lassen will, ordnet die SED eine spezielle Prozedur an. In der ersten Phase wird ein „Rettungsversuch“ durch ein Kollektiv von Vorgesetzten unternommen. Scheitert er, wird das nun kommende Verfahren als geheim erklärt. Ist die Ehefrau politisch nicht selbst aktiv tätig, erfolgt eine administrative Scheidung durch eine Sonderkammer. Nur wenn die Ehefrau älter als 55 Jahre ist, hat sie mit Unterhalt zu rechnen. Sonst geht es nur darum, auf welche Einrichtungsstücke der Wohnung sie Anspruch hat. Bei solchen Scheidungen bevorzugt das Regime eindeutig den Ehepartner, der ihm am dienlichsten ist.

Die komische Seite dieser Verfahrensart wurde kürzlich in Ost-Berlin deutlich, als ein 52jähriger Oberst des Staatssicherheitsdienstes Scheidung begehrte. Hatte doch seine Gattin ein halbes Dutzend politischer Funktionen inne und arbeitete hauptberuflich an leitender Stelle der Frauenorganisation. Weder eine Aussöhnung noch einvernehmliche

Trennung waren zu erreichen Genosse Oberst hatte sich seine Wiederverheiratung mit einer 27jährigen Jugendleiterin in den Kopf gesetzt. Als die junge Dame dann im siebten Monat schwanger war, ordnete man — wie üblich in diesen Fällen, unter Ausschluß der Öffentlichkeit — ein Verfahren an. Das Gericht wollte beiden Seiten gerecht werden und versuchte, zu vermitteln. Da das Verschulden eines Ehegatten nach dem neuen SED-Familienrecht bei der Scheidung überhaupt keine Rolle spielt, mußte man sich ganz darauf konzentrieren, daß eine Ehe geschieden werden kann, wenn sie „ihren Sinn für die Ehegatten, die Kinder und damit auch für die Gesellschaft verloren hat“. Die Frau sagte, sie wolle die Ehe aufrechterhalten, denn sie habe schon mehrmals verziehen. Der Oberst beabsichtigte, „hinsichtlich Liebe noch mal von vorne zu beginnen“. Das Gericht schied die Ehe mit dem Argument, für die Gesellschaft sei es das Wichtigste, daß das Kind der Geliebten durch den Oberst bei der Erziehung am meisten profitieren und somit zu einem wertvollen Mitglied der Arbeiterklasse werde.

„... Sie tendieren zum Klassenfeind!“

Ein Drittel aller Eheschließungen in der DDR wird zwischen dem ersten und vierten Ehejahr geschieden. Im Verhältnis zur Bevölkerung sind die Scheidungen bei Berufssoldaten der Nationalen Volksarmee am höchsten, obwohl solche Ehen materiell völlig abgesichert sind. Ein Witz in der Armee charakterisiert das: „Leutnant und noch nicht zum zweiten Male verheiratet? Genosse, Sie tendieren zum Klassenfeind!“ Die Scheidung junger Ehen wird eher begünstigt als eingedämmt. Ideologisch begründet man das mit dem Hinweis, leichte Scheidungen seien Beweis dafür, daß in der sozialistischen Gesellschaft materieller oder religiöser Druck nicht mehr bestehe. Auch die Karriere werde durch mehrere Scheidungen nicht behindert. Im übrigen ist die außerheliche Zeugung eines Kindes kein Scheidungsgrund. Auswirkung: Im Jahre 1969 wurden 29.034 Kinder in der DDR unehelich geboren. Das sind 15 Prozent aller Geburten (in der Bundesrepublik 5 Prozent).

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