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Zügel für schlechte Sitten

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1. Oktober 1968: In der UdSSR tritt die neue Familiengesetzgebung in Kraft, die drei Monate lang leidenschaftlich diskutiert und schließlich auf der IV. Tagung des Obersten Sowjet in diesem Sommer angenommen wurde.

Es liegt auf der Hand, daß die Bolschewiken, die vor nunmehr 50 Jahren die Macht ergriffen, sich nicht mit den Familiengesetzen des zaristischen Rußland zufriedengeben konnten. Fort mit dem Erbe der Vergangenheit! In Ermangelung einer vernünftigen Lösung mußte wenigstens Neues her. So räumten die ersten Erlässe der Sowjetmacht mit den „alten überholten Grundsätzen“ auf. Und es kam die völlige Gleich- berechtigung der,, Frauen . uncjl der Männer.. _ -

Kraft ihrer „Emanzipation“ üben die sowjetischen Frauen seither die schwersten Arbeiten aus, die im Westen stets den Männern Vorbehalten bleiben (Bergbau unter Tage, Dockarbeit usw.).

Seit dem Monat Dezember 1918 sind legale Abtreibungen, nicht deklarierte Ehen, automatische Scheidungen gestattet. Die Befreiung der künftigen Ehegatten in bezug auf ihre Familien geht mit einer sexuellen Befreiung einher, jener „freien Liebe“, wie sie Alexandra Kollentai rühmte. In manchen Gegenden finden sich sogar Extremisten, die die „Verstaatlichung“ der Frauen fordern! Ein solcher Extremismus wird allerdings vom stalinistischen Familienrecht nicht sanktioniert, wenngleich dieses außerordentlich freizügige Thesen verkündet.

Begräbnis der Familie

Unter der Herrschaft Chruschtschows wurde die Familie als ein untragbares Hemmnis auf dem Weg zum neuen Sowjetmenschen betrachtet.

Alle Handlungen Chruschtschows auf sozialem Gebiet zielten daher auf die Zerstörung der sowjetischen Familie. Der berühmte Wirtschaftswissenschaftler Stroumilin wurde mobilgemacht, um die Chru- schtschowschen Thesen über das Begräbnis der Familie zu verfechten. Lesen wir selbst:

„ die Kinder müssen von ihrer Geburt an von ihren Eltern getrennt erzogen werden, denn die Verwöhnung macht aus ihnen Egoisten und Individualisten, zwei Eigenschaften, die der Männer und Frauen der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft unwürdig sind. Jedoch werden die Eltern sie in regelmäßigen Abständen besuchen dürfen, um ihnen die ,Vitamine der Liebe' zu verschaffen, die sie brauchen.. (Artikel in „Novy Mir“, Nr. 6, 1960, S. 203 bis 220.)

Die sexuelle Anarchie

Die Methoden Stalins und Chruschtschows haben eine derartige sexuelle Anarchie mit sich gebracht, daß die Folgen, denen sich, der neue Herr des Kreml, Breschnjew, gegenübersieht, rasche Abhilfe dringend nötig machen.

Die Bilanz ist tragisch: In Leningrad beispielsweise zählt man drei Abtreibungen auf eine Lebendgeburt. Nahezu eine halbe Million Paare läßt sich jährlich scheiden. Allein in Moskau erreicht der Scheidungssatz 3,6 pro 1000 (für das Gesamtgebiet der USA, wo man sich doch schon wegen einer Lappalie scheiden läßt, beträgt er nur 2,2 pro 1000).

In der UdSSR werden mehr als 20 Prozent der Abtreibungen an

Frauen unter 24 Jahren vorgenommen, und die Mehrzahl von ihnen ist ledig. Die UdSSR zählt denn auch mehr als 10 Millionen uneheliche Kinder. Mehr als 2 Millionen andere ledige Mütter müssen vom Staat unterstützt werden, während Millionen andere nicht auf den Listen der Sozialfürsorge erscheinen, da sie keine Beihilfen mehr beziehen, wenn das Kind das 12. Lebensjahr vollendet.

Hunderttausende von Kindern aus zerstörten oder abnormalen Familien fallen somit der Gesamtheit zur Last. Die „Sozialisierung“ der Familie ä la Chruschtschow kommt die Staatskasse teuer zu stehen, und infolgedessen bleibt für Breschnjew die Familie, anerkannte und propagierte Grundlage der sowjetischen Gesellschaft, unersetzlich und moralisch wünschenswert.

Die Rechte der Familie

Das nunmehrige neue sowjetische Gesetz über die Ehe und die Familie (5 Kapitel und 36 Artikel) legt neue allgemeine Grundsätze fest und setzt die Normen für die Probleme, die in den verschiedenen Republiken, die die UdSSR bilden, in gleicher Weise gelöst werden sollen.

Eine Prüfung der 36 Artikel des Gesetzes läßt sofort die Abschaffung der 1936 von Stalin auferlegten Re

gelung erkennen, deren Anwendung Chruschtschow fortsetzte.

In Zukunft werden die Brautleute nachdenken müssen, bevor sie heiraten. Sie müssen jetzt nämlich (Art. 9) einen vollen Monat von dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Heiratsabsicht dem Standesamt bekanntgegeben haben, bis zur Hochzeitszeremonie warten. Diese Verzögerung ist ein Zugeständnis an die sowjetischen Soziologen, die unablässig die Scheidung als ein nationales Übel anprangem.

Manche machen dafür die spezifisch sowjetischen Verhältnisse verantwortlich — die Notwendigkeit ständiger Selbstdisziplin, zu der das Zusammenleben zwingt — und die häufig zu Reibungen führen (die sehr strengen Normen für den Wohnraum betragen 9 Quadratmeter pro Person gegenüber 5 zu Zeiten Chruschtschows). Da Ehemann und Ehefrau arbeiten, ist es schwierig, die Zeiteinteilung und zumal den Urlaub in Einklang zu bringen; so lassen sich Ehegatten gleich nach der Hochzeit wieder scheiden, da sie nicht materiell Zusammenleben können.

Die verschwundenen Väter, die oft vor der Geburt des Kindes schon wieder verheiratet sind, kümmern sich kaum um irgendeine Versorgung für das Kind. Damit ist es heute zu Ende: Das neue Gesetz interessiert sich vor allem für das Wohl des Kindes. So werden zeitweilige Konfliktgründe und der Wunsch eines der Gatten, ohne ernsthafte Rechtfertigung seine Freiheit wiederzugewinnen, nicht als ausreichende Scheidungsgründe angesehen.

Darüber hinaus kann ein Gatte die Scheidung nicht ohne förmliche Zustimmung der Ehefrau verlangen, wenn sie schwanger ist und in einem Zeitraum von zwölf Monaten nach der Geburt (Art. 14).

Das neue Gesetz erläßt weitereine bestimmte Anzahl Bestimmungen, die die unehelich geborenen Kinder mit den anderen gleichstellen sollen. Es setzt den Betrag der vom Vater zu leistende Alimente wie folgt fest: ein Viertel des KirikbrrimėriS'®r ein Kind, ein Drittel für zwei Kinder, die Hälfte für drei Kinder und mehr (Art. 22).

Andere Paragraphen bestimmen namentlich die Begriffe der Nachforschung nach der Vaterschaft, der Verantwortung der Eltern für die Erziehung und den Unterhalt der Kinder.

Das neue Gesetz bringt also eine „Revolution“ im Familienrecht, indem es das Konkubinat unterdrückt und der ,4n der sozialistischen Staatsform undenkbaren“ Entartung der Sitten feste Zügel anlegt.

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