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Familienpolitik in Sowjetrußland

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Mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, widmet sich die innere Politik der Sowjets dem Bevölkerungsaufbau. Den Berichten der Moskauer Presse über die Beratung des Staatsbudgets der „Russischen Sowjetischen Föderativen Sozialistischen Republik“, der größten aller Sowjetrepubliken, ist zu entnehmen, daß der Staat ganz erhebliche Einnahmen aus einer Steuer hat, die nicht nur Ledigen, sondern auch allen anderen Alleinstehenden, Geschiedenen und Verwitweten und sogar kinderarmen Sowjetbürgern auferlegt wird. Das Ziel ist Stärkung der Volkskraft, also Vorsorge für einen zahlreichen und gesunden Nachwuchs des Volkes. Von hier führt eine logische Gedankenreihe zu Vorkehrungen für den Schutz der Familie, also zu einer gleichgerichteten Bevöl- kerungs- und Familienpolitik. Dem Revolutionsrausch der ersten Jahre, der die Geschlechterbeziehungen einer völligen Anarchie preisgegeben und die freie Liebe an die Stelle der Ehe gesetzt hatte, war bald eine Ernüchterung gefolgt, die sich vor allem in einer Verschärfung der gestzlichen Bestimmungen über die Ehescheidung äußerte. Eben ist Sowjetrußland daran, viel weiterzugehen.

Unter großem Zulauf sprach kürzlich im Moskauer Polytechnikum Professor K o 1- banowsky über das Thema „Liebe, Ehe und Familie in der sozialistischen Gesellschaft". Was er darüber sagte, zeugt von einer so tiefen Erkenntnis der Grundlagen sozialer Ordnung, daß man nur wünschen könnte, daß diese auf russischem Boden zum Bekenntnis gewordenen Wahrheiten auch anderwärts zur Nachdenklichkeit und Seli/stprüfung anregen würden. Alexander Werth, der Moskauer Korrespondent des „Manchester Guardian“ gibt darüber in seinem Blatt vom 9. April einen vielsagenden Bericht.

Der Vortrag des Moskauer Gelehrten erhält dadurch besonderes Gewicht, daß gegenwärtig ein besonderes Regierungskomitee mit der Ausarbeitung neuer Ehe- und Familiengesetze betraut ist. Es darf als ausgeschlossen gelten, daß in einem unter großen Aufsehen und bei einem Massenzustrom des Publikums gehaltenen Vortrag wesentlich andere Grundsätze verkündigt werden konnten als jene, die für die Arbeiten des Regierungskomitees maßgeblich sind.

Der Vortragende ging von der Feststellung aus, die biologische Anziehung zwischen den Geschlechtern sei allen Lebewesen gemeinsam, die Liebe aber etwas allein Menschliches; es gebe keine Liebe im wahren Sinne zwischen den Tieren, und wenn ąuch die Liebe des Menschen unzweifelhaft auf einer „biologischen Basis“ beruhe, so sei doch maßgebend, daß „ein komplexer Überbau von spirituellen, geistigen und sozialen Prozessen die echte Liebe herstellt". Der Vortragende, der sich offenbar bewußt war, wie sehr er mit dieser Analyse von der materialistischen Doktrin wegführt, suchte der entsprechenden Folgerung mit der Versicherung zu begegnen, eine bloße biologische Beziehung zwischen den Geschlechtern anzunehmen sei der kommunistischen Auffassung völlig fremd, ja erst der Kommunismus komme als der Befreier der Frau aus ihrer seit tausenden Jahren bestehenden Degradation, in der die Frau als Sklave und Spielzeug des Mannes behandelt worden sei, in Betracht; „sowohl die Philosophen wie die Kirchen sanktionierten diese entwürdigte Stellung der Frau“.

Nach dieser Attacke, die zwar mit der geschichtlichen Wahrheit schwer karamboliert, aber üblicher Methode entspricht, glaubte Professor Kolbanowsky es wagen zu können, die Reformideen für das bevorstehende Gesetzgebungswerk entwickeln zu dürfen.

Noch seien gewisse vulgäre Ideen von „freier Liebe“, die Lenin scharf verurteilt habe, nicht ganz ausgerottet, ihre Praxis sei aber der Sowjetgesellschaft unwürdig; wenn manche der Meinung seien, daß der Mann von Natur aus polygam veranlagt sei, so sei dies unvereinbar mit der Auffassung des Charakters der Familie im Sowjetstaat. Es soll vielmehr für1 die intellektuelle Hebung der Frau gesorgt werden, die sie befähigt, die Interessen ihres Mannes zu teilen, beider gemeinsame Interessen mit denen des Landes und der Gesellschaft zu ‘verbinden und so auch in der gemeinsamen interessevollen Anteilnahme an der Erziehung ihrer Kinder. Wenn es marxistische Theoretiker gab, erklärte der Moskauer Gelehrte, welche die Familie als eine bourgeoise

Institution ausgaben und für den Staat die Obhut über die Kinder reklamierten, so muß dem entgegengehalten werden: Nein, der Sozialismus verwirft das Prinzip der „Fohlenfarm", vielmehr hat die monogame Familie unter dem Sozialismus einen besseren Stand als in anderen Systemen! Die geistige Interessengemeinschaft der beiden Gatten wird in demselben Maße wachsen, als die Frau von den kleinlichen Sorgen befreit werde, und in dieser geistigen Verbindung ruht eine Bürgschaft für ihre dauernde Zusammengehörigkeit. Auch unter einem Vollkömmunismus würde das Familienleben fortdauern und würden die Menschen niemals auf die große Freude, ihre Kinder selbst zu erziehen, verzichten; Kinder schenken beiden Eltern eine zweite Jugend. Professor Kolbanowsky gelangte hier sogar zu dem Satze: „Unter Sozialismus und Kommunismus würde die Familie eine noch stärkere Einheit werden.“ Der Vortragende deutete an, daß die neue Gesetzgebung die Festigkeit des Ehebandes noch verstärken werde; „ohne prophezeien zu wollen", wie die neuen Bestimmungen lauten würden, sprach er von dem unheilvollen Wirkungen der Ehescheidung auf die Kinder, die Opfer dieser Trennung werden: „Für lebende Eltern ist es ein Akt verbrecherischer Schlechtigkeit, Halbwaisen zu schaffen.“

Sehr bittere Erfahrungen müssen es gewesen sein, die nach den Ehedroktrinen marxistischer Theoretiker und ihrer konsequenten Anwendung zu einer solchen wesentlichen Revision der Begriffe und der sachlichen Folgerungen zwingen. Vielleicht erfolgt diese Revision gerade deshalb in Moskau, weil nirgends sonst wie in Sowjetrußland jene Theorien so kompromißlos und in voller Wirkung, ausgeprobt werden konnten wie hier: unbehindert durch Halbheiten und gegnerische Kräfte konnten sie hier ihre ganze Virulenz offenbaren: das Unternehmen, das Ehreband möglichst zu lockern, di(e sittlichen Bindungen der Gfe schlechter aufzulösen, Ehe und Familie und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ihrer sittlichen Werte und Rechte zu entkleiden und die Kinder er ziehung zu einer reinen Staatssache zu machen. In Rußland sucht man sich aus diesen Irrtümern zu lösen. Nicht aus ähnlichen grundsätzlichen Motiven, die den christlichen Menschen leiten, aber aus nüchterner Erkenntnis, daß der eingeschlagene Weg schädlich und auch der sozialistischen Gesellchaft schwer abträglich ist.

Auch der österreichische Sozialismus wird von diesen sicherlich teuer erkauften Er- kepnnissen marxistischer Nachbarschaft in seiner Familien- und Schulpolitik Akt nehmen müssen.

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