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Zeitgenosse

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Als Advokat kommt man um die Seheidungsmaterie nicht herum. Auch dann nicht, wenn es einem grundsätzlich und persönlich gegen den Strich geht, bei der Trennung eines Bandes mitzuwirken, das vor Gott gebunden worden ist, mit der Aussicht, zu halten, „bis daß der Tod euch scheide“. So wurde Paul Appia-no zum Fachmann für Ehescheidungen. Vor 20 Jahren noch Bundesführer der Katholischen Studierenden Jugend, im letzten Jahrzehnt immer wieder engagiert, wenn die Laien zur Mitarbeit an Synoden und Katholikentagen aufgerufen wurden, auf diesem Weg auch „eingefangen“ für die Funktion eines Vorsitzenden der Katholischen Hörfunkkommission der Erzdiözese Wien, stand Appiano nun am Rednerpult. Er sollte als Praktiker mit katholischer Basis über die Probleme der Scheidung berichten, als der Katholische Familienverband die geplante Reform analysieren wollte.

„Die Ehe wird zu einer Lebensge-

meinschaft auf Zeit mit fünfjähriger Kündigungsfrist“, philosophierte der Anwalt über die Folgen der geplanten Erleichterungen. Fünf Jahre „Zerrüttung“ genügen, um auch ohne Schuldspruch gegen den einen oder andern die Ehe zu scheiden. (Sie „genügen“ — das ist ja das Motiv der Reform-Befürworter — auch den auseinandergelebten Ehepartnern mit einer oft unerträglich gewordenen Abfolge von Streit und Haß, um die Trennung schließlich als Erlösung zu empfinden). Ehe mit Kündigungsfrist — auch wenn das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch die Ehe nach wie vor als Dauerinstitution einsetzt.

Wie viele Menschen sind es, die heute bereits nach kürzerer oder längerer Frist dem „Ehejoch“ entfliehen? In den letzten Jahren wurden in Österreich jeweils etwa 17.000 bis 18.000 Scheidungen eingebracht, entnahm Appiano der Statistik. 10.000 bis 11.000 Scheidungen werden vom Richter ausgesprochen. 10.000 Menschenpaare, die einst zueinander gefunden hatten — meist doch mit dem Willen zu einem dauerhaften Beieinanderbleiben — und die dann zum Entschluß kamen, es geht nicht. Zwei Drittel von ihnen im ersten Ehejahr,

aber so manche auch noch nach der Silberhochzeit. 95 Prozent der geschiedenen Ehen wurden mit Schuldspruch geschieden — aber war wirklich nur der schuldiggesprochene Partner „schuld“? Wie oft gab der andere durch sein Verhalten den Anreiz zum Ausbrechen? „Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein“, zitierte auch Professor Fritz Schwind als Rechtslehrer im Rahmen der Enquete und skizzierte damit die Schwierigkeit für den Richter, Schuld und Mitschuld abzuwägen.

Aber die Reform dreht sich ja nur um jene Fälle, bei denen nicht der geschädigte Partner klagt und die Scheidung vom untreuen Bettgenossen fordert, sondern wo der meist schon seit Jahren „abgewanderte“ Teil seine volle Freiheit wiederherstellen lassen will. Das sind etwa 400 bis 500 pro Jahr — und vielleicht etwas größer ist die Zahl jener Fälle, die — bisher — wegen Einspruchs des Partner trotz Zerrüttung nicht geschieden werden. Sie wären in Hinkunft das Reservoir zusätzlicher Scheidungen nach dem reformierten Paragraphen 55. Den „Nachholbedarf“, die Zahl jener teilweise seit vielen Jahren „aufgestauten“ Fälle längst zerbrochener Gemeinschaften,

bei denen meist die Frau aus Sorge um ihre Versorgung bisher nein sagte, beziffert man im Justizministerium mit 5000 bis 10.000.

Ist der Richterspruch wirklich immer die letzte Lösung? 18.000 Klagen — 11.000 Scheidungen: dazwischen liegen mehr als 2000 Klagen, die wieder zurückgenommen werden, fast doppelt so viele, die von den Klägern nicht mehr weiterverfolgt werden. Könnte diese Zahl nicht noch größer sein, wenn nicht mancher Richter zu rasch zur Kenntnis nähme, was ihm an „Scheidungsgründen“ vorgelegt wird? Wird er nun nicht mitunter zu schnell auch die „unheilbare Zerrüttung“ konstatieren, wenn er keine Rücksicht mehr auf die Versorgungsprobleme der zurückgelassenen Frau nehmen muß? Die Chance, auch den Sühneversuch in die Reform einzubezie-hen, wurde vertan, kritisiert Paul Appiano.

Die Scheidung wird losgelöst von der Familie gesehen, auf die Kinder wird nicht Bedacht genommen, analysiert Appiano weiter. Heute schon bleiben Jahr für Jahr 10.000 Scheidungswaisen unter 14 Jahren auf der Strecke. Wie viele werden es demnächst sein? Ob sie einst ihren Eltern und dem Staat, der diese geschieden hat, dankbar sein werden?

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