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Durchschnittsgesinnung

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Die Dauer der Koalition und die geradezu kontraktliche Rücksichtnahme einer Partei auf die Gegenmeinung der anderen Partei hat das Entstehen einer Einseitigkeitspolitik verhindert und über zuweilen schöpferische Kompromisse eine Art von „Durchschnittsgesinnung“ entstehen lassen. Es bedarf daher in Österreich keiner Öffnung nach links oder nach rechts, da die Regierungskoalition Gesinnungsgruppen von weit links bis weit rechts umfaßt, Noch-nicht-Kornmmu-nisten, die mit Deutschnationalen und Nationalsozialisten um das sozialistisch-konservative Zentrum lagern.

Da es den Regierungsparteien nicht möglich ist, alle Maßnahmen der Partner, welche diese in ihrer „Reichshälfte“ vollzogen haben, zu billigen, ist es aber zum Enstehen einer Opposition i n der Regierung gekomnicht versagt wurde, wenn man offenkundige Fehler machte.

Die Folge der Koalition ist unsere politische Stabilität, die bereits so lange andauert, daß sie nicht wenige als langweilig empfinden. Nun ist aber die Stabilität das Ergebnis eines Prozesses, in dem eine Gruppe gegenüber der anderen ständig das Opfer bringt, auf die völlige Durchsetzung von Forderungen zu verzichten, in Erwartung, Gleiches von der Gegengruppe erhoffen zu dürfen.

Fragen wir uns doch: Hätte die Arbeiterschaft bei Bestand einer „bürgerlichen“ Regierung das Gefühl erhalten, legitim Teil der Gesellschaft und eine Gruppe vollberechtigter Staatsbürger zu sein?

Wenn nicht die Kräfte aus dem politischen Untergrund sich durchsetzen, wird die Koalition noch für viele Jahre eine Konstante in unserer Politik sein, weil sie bis auf die unterste Ebene unserer staatlichen Verwaltung wie der beruflichen Selbstverwaltung (Kammern) institutionalisiert ist. Es wäre kaum denkbar, wollte man die Proporzverwaltung auflösen und an ihre Stelle eine Verwaltung setzen, die nach den Prinzipien eines Einparteienregimes aufgebaut wäre. In diesem Fall gäbe es freilich auch einen Proporz, nämlich eins zu null statt eins zu eins. Die Einheitsgewerkschaft müßte selbstverständlich zu bestehen aufhören. Die vorhandenen Fraktionen würden wahrscheinlich zu Richtungsgewerkschaften werden. Keine Partei vermag heute den Charakter einer Klassenpartei anzunehmen. Nach Auflösung der Koalition entstünden daher wahrscheinlich Querverbindungen zwischen den Interessentengruppen. Es käme zum Entstehen eines „zweiten“ Parlaments.

Nach menschlichem Ermessen und bei Beachtung der politischen wie der sozialen Realitäten wird also auch nach den Novemberwahlen 1962 unser Land wieder von einer Koalition regiert werden. Die Tatsache darf aber nicht übersehen lassen, daß zwar nicht die Koalitionsabsprache als solche, wohl aber ihr Inhalt im Interesse der Sicherung einer demokratischen Ordnung revidiert werden sollte:

• Die Chance, wirksam zu opponieren, das Widerstandsrecht der Staatsbürger, ist zu gering bemessen, innerhalb wie außerhalb der Parteien, obwohl es um unserer freiheitlichen Ordnung willen „kanalisiert“ werden müßte.

• Die Eigenmacht der Regierung (der Ressortchefs) und des Parlaments wird in einer der Verfassung widersprechenden Weise andauernd ungebührlich gekürzt. Das Hohe Haus ist weithin ein Akklamationsplenum geworden.

• Der sogenannte koalitionsfreie Raum ist zu gering, ein Umstand, der dem Subsidiaritätsprinzip widerspricht. Die gewählten Volksvertreter finden ihre Einflußmacht von Pakt zu Pakt geschmälert. Dazu kommt, daß wegen des Proporzes zu viele Personen, die weder sachlich noch moralisch geeignet sind, einflußreiche Positionen erhalten und dem österreichischen Volk Unsummen kosten. Man kann nicht jedem Fachmann zumuten, vor seiner Bewerbung um einen Posten, der von Regierungsseite ausgeschrieben wird, sich parteipolitisch festzulegen. Derlei verlangen, heißt die Demokratie denaturieren.

• Das, was man „öffentliche Meinung“ nennt, wird zuweilen von einzelnen Politikern in einer bedauerlichen Weise mißachtet, weil man, der Sicherungen des Koalitionspaktes bewußt, meint, angesichts einer schwachen parlamentarischen Opposition bedenkenlos regieren zu können. Nicht selten benehmen sich Politiker so, als ob sie in ihrem Rang pragmatisiert wären.

• Die von der Volkspartei vorgeschlagene direkte Demokratie wäre — wenn realisierbar gestaltet — eine Möglichkeit, den oft als zu eng empfundenen Koalitionspakt zu lokkern. Ebenso sollte man sich entschließen, mehr, als dies bisher geschehen ist, den Abgeordneten und damit den Partnern des Paktes das Recht der freien Abstimmung im Hohen Haus zu geben, gibt es doch etwa in sozialen Fragen Interessengegensätze und Interessengemeinschaften, die quer durch die beiden Großparteien gehen.

• Nun ist aber nur dann eine Politik auch staatspolitisch wertvoll, wenn sie sich auf die Zustimmung weiter Kreise, auch außerhalb der Parteien, zu stützen vermag. Das führt zur Forderung nach einer Öffnung der Koalition nach allen Seiten, vor allem für eine persönliche Mitarbeit, aber auch um eine Kooperation mit gesellschaftlichen Verbänden herbeizuführen, die sich nicht parteigebunden fühlen.

Wie immer nun die Kritik an der Koalition formuliert und wie sehr sie berechtigt ist, darf nicht übersehen werden, daß die Zusammenarbeit in der bisherigen Form trotz aller Entartungen ein wesentliches Element im Prozeß unserer Volk- und vor allem der Staatsvolkwerdung darstellt.

We r aber meint, die Koalition müsse liquidiert werden, muß die Alternative nennen! Und zwar offen und beim Namen.

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