Die vergessene Hölle von Weyer

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Aus der Lokalgeschichte des Unmenschen: Ludwig Laher rekonstruiert die Geschichte eines "Arbeitslagers" in Oberösterreich.

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Aus der Lokalgeschichte des Unmenschen: Ludwig Laher rekonstruiert die Geschichte eines "Arbeitslagers" in Oberösterreich.

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Zeitgeschichte als Dichter verarbeiten, aber ohne erfundene Handlung. Genau an der Wirklichkeit entlang, aber ohne Abstriche vom formalen Anspruch, den man auch sonst an sich stellt. Das ist schon ein schwieriges Programm. Ludwig Laher hat es gewagt. Das Unternehmen ist geglückt.

Es hätte leicht schief gehen und eine jener Pelzwaschungen werden können, bei denen keiner nass wird. Wenn die Wahrheit die konkreten Vorfahren konkreter Menschen der Gegend betrifft, in der man lebt, wird das Aussprechen der Wahrheit schwierig. Laher verarbeitet regionale Zeitgeschichte und verzichtet auf Erfindung. Er lässt Takt walten und verfremdet aus Rücksicht auf Nachkommen viele Namen. Dass er ihnen dabei von den Schweinereien der Großväter nichts erspart, macht die Qualität und Wichtigkeit des Buchs aus.

"Herzfleischentartung" ist ein 187 Seiten dünnes Buch, aber ein Brocken für Österreich, besonders für Oberösterreich. Laher wagte sich nämlich an das unterbelichtete zeitgeschichtliche Thema der Arbeitserziehungslager heran, und an die als Thema noch unbeliebtere Involvierung der lokalen Bevölkerung in die Missetaten der Nazis. Kurz vor "Herzfleischentartung" erschien ein Werk, das der Sache den historischen Rahmen gibt: "KZ der Gestapo - Arbeitserziehungslager im Dritten Reich" von Gabriele Lotfi.

Die vom Kärntner Landeshauptmann einst so genannten "Straflager" hat es nämlich gegeben. Sie hießen meist "Arbeitserziehungslager", oder einfach "Arbeitslager". Ihre Insassen waren keine KZ-Häftlinge, aber oft noch ärger dran. Das Arbeitslager in Weyer, dessen Geschichte Laher ebenso ausführlich wie spannend und mit vielen menschlich-allzumenschlich-unmenschlichen Einzelheiten rekonstruiert, war eine Einrichtung der lokalen SA. Doch die meisten dieser Lager unterstanden der Gestapo. Zum Beispiel das Arbeitserziehungslager Oberlanzendorf.

Keine auch nur entfernt mit Mauthausen, Dachau oder Buchenwald vergleichbare Assoziation verbindet sich mit Ortschaften wie Weyer oder eben dem südöstlich von Wien gelegenen Oberlanzendorf. Tatsächlich tobte sich in manchem dieser Lager gerade wegen ihrer Kleinheit ein selbst für die deutschen KZs ungewöhnlicher perverser Sadismus aus. Einiges davon wurde im Juni 1950 beim Prozess gegen zwei ehemalige Kommandanten von Oberlanzendorf bekannt und, wie damals üblich, sofort wieder vergessen. Der Dichter Milo Dor ist ein Überlebender von Oberlanzendorf. Ebenfalls damals üblich: Die ehemaligen Kommandanten, beide vor 1938 österreichische Kriminalbeamte, wurden verurteilt. Das Verfahren gegen ihren Vorgesetzten im Gestapo-Hauptquartier auf dem Wiener Morzinplatz verlief im Sande.

Das Arbeitslager im oberösterreichischen Weyer entsprang der lokalen Initiative. Ludwig Laher erzählt, wie ein ehrgeiziger "Gaufachabteilungsleiter" die Idee dazu hat, wie er sie dem oberösterreichischen Gauleiter Eigruber zuspielt, wie sich einer beim anderen absichert: "Er könne aber unmöglich die Verantwortung übernehmen, wenn dabei einer sterbe, bohrt August nach. Alles gedeckt, weiß Franz." Laher liefert die genaue Analyse, wie aus dem einen, der vielleicht sterben könnte, viele werden. Wie die Willkür der von niemandem kontrollierten Wachmannschaften eskaliert, wie man einander an Brutalität überbietet.

"Bei den Einzuweisenden, erklärt Franz dem August offenherzig, handle es sich durchwegs um Leute, die nichts wert seien. Man möge sie daher bei Bedarf an Bäume binden und anständig schlagen." Zu den vielen Aufschlüssen, die wir bei Laher finden, zählen auch die Gesichtspunkte, unter denen im damaligen "Gau Oberdonau" jemand für "nichts wert" erklärt und in so ein "Straflager" (Originalton eines einfachen FPÖ-Parteimitgliedes, Anmerkung des Rezensenten) eingewiesen werden konnte.

Nichtigste Anlässe Es genügte, einem NS-Bonzen geschäftlich in die Quere zu kommen. Oder im Wirtshaus zu sagen, der zweite Weltkrieg werde länger dauern als der erste und Amerika und Russland würden als Kriegsgegner auch noch dazu kommen. Oder einen Chef an seine einstige Mitgliedschaft im Republikanischen Schutzbund zu erinnern. Oder als Achtzehnjähriger nach abgeschlossener Lehre die Stelle wechseln zu wollen, weil einen der Lehrherr nicht zur Gesellenprüfung antreten ließ. Oder weil man nach drei durchgearbeiteten Sonntagen nicht auch noch den vierten der Hitlerjugend widmen wollte.

Das Arbeitslager in Weyer war zwar tatsächlich "nur" ein Straflager, trotzdem wurden dort Menschen gefoltert und zu Tode geprügelt. Nicht wie in Mauthausen streng nach Dienstvorschrift, sondern unsystematisch und undiszipliniert. Genau deswegen wurden auch immer wieder die örtlichen Behörden, "Dienststellen" in der damaligen Diktion, involviert. Sie mussten zum Beispiel für die amtliche Leichenbeschau sorgen und die Totenscheine ausstellen.

"Herzfleischentartung": Schon ein komisches Wort. Irgendwie unangenehm. Aber auch irgendwie sprechend. War nicht der ganze Nationalsozialismus eine Entartung der Herzen? Doch so ist der Buchtitel nicht gemeint. Man muss beim Lesen schon weit gekommen sein, bis gegen Ende, um zu erfahren, dass es mit der Herzfleischentartung Konkretes auf sich hat. Man war in den Lagern nämlich beim Eintragen fiktiver Todesursachen all der Erschlagenen, Verhungerten und zu Tode Gefolterten sehr kreativ. Die Kärntnerin Maria Justina Müller, geboren 1866, im Jahr der Schlacht von Königgrätz, starb laut Sterbebuch der Gemeinde Weyer an Herzfleischentartung. Tatsächlich wohl einfach an Unterernährung. Vielleicht, meint Laher, "wäre sie auch außerhalb des Lagers bald einmal gestorben". Die eigentliche Todesursache hätte wohl lauten müssen: "Zigeunerin im NS-Staat".

Aus dem Arbeitslager Weyer war nämlich bereits einige Zeit vor dem Tod der Maria Justina Müller ein "Zigeuneranhaltelager" geworden. Kein Todes-, sondern ein Durchgangslager auf dem Weg in den Tod. Wir erfahren: "Als die Romafrauen und -kinder in ihrem letzten Sommer den umliegenden Bauern bei der Ernte helfen müssen, machen manche Innviertler Dickschädel aus prinzipiellen Gründen nicht Gebrauch davon, weil das Gesindel auf ihrem Hof und Acker nichts zu suchen hat, andere ordnen jede bei der Arbeit unter dem Rock versteckte Kartoffel in ihr jeweiliges Weltbild ein: Es gibt wütende Beschwerden bei der Lagerleitung, dass die Zigeuner stehlen wie die Raben, es gibt aber auch Einheimische, die ihnen heimlich Essen zustecken, das eine oder andere Kleidungsstück."

Ein kleiner Beitrag zur Palette all der Zwischentöne zwischen Schwarz und Weiß. Doch mit der Verwandlung des Arbeits- in ein Zigeunerlager geht Lahers Geschichte bereits langsam in die Endrunde. Anlass der Verwandlung war ein in der NS-Zeit ziemlich einzigartiger Vorgang, dem der unermüdlich in Akten stöbernde Autor auf die Spur gekommen ist.

Duell der NS-Behörden Ein örtlicher Arzt, kein Nazigegner offenbar, doch stets um die Einhaltung aller Vorschriften bemüht, hatte einen Toten "amtlich beschaut", bei dem es unmöglich war, darüber hinwegzusehen, dass der Mann an den Folgen schwerer Folterungen gestorben war. Er erstattet Anzeige und die Staatsanwaltschaft ermittelt. Sie lässt sich auch von den Interventionen der NS-Größen nicht davon abbringen, widersteht der Allmacht des Gauleiters Eigruber und will sogar einen nach Mauthausen überstellten Zeugen vernehmen. Sie ist nicht bereit, einen Verdächtigen, kein kleines Unterläufel, zu enthaften. Den Parteibonzen bleibt schließlich nichts anderes übrig, als sich an die Kanzlei des Führers zu wenden, der das Verfahren mit höchstpersönlicher Weisung in seiner Eigenschaft als Staatsoberhaupt gesetzeskonform niederschlägt. Das Arbeitslager wird drauf aufgelöst. Aber man will die beschlagnahmten Gebäude ihren rechtmäßigen Nichtnazi-Eigentümern nicht zurückgeben. Also wird eine neue Verwendung gefunden. Die Idee eines Zigeuneranhaltelagers lag wohl in der Luft.

Ludwig Laher rekonstruiert den Vorgang anhand der Akten. Sie erzählen nichts über Motive und politische Gesinnung der Beamten in der Staatsanwaltschaft. Zumindest nicht expressis verbis. Was sie nicht erzählen, kann sich der Leser aber unschwer vorstellen. Der Autor verzichtet auch hier auf Erfindung.

Wie er es tut, wie er ausspart oder höchstens andeutet, was er nicht weiß, dies zeugt von hoher Kunstfertigkeit. Wir haben es ja vor allem mit einem ansehnlichen Stück Literatur zu tun und mit keinem Sachbuch. Doch solche Literatur kann in den Köpfen der Leser vielleicht mehr bewirken als das beste Sachbuch, vor allem, wenn man es nicht liest. Den Ausgang der Geschichte wollen wir nicht verraten. Schließlich handelt es sich zwar eigentlich um keinen Roman, obwohl Laher sein Buch so nennt, doch sehr wohl um einen Krimi. Und spannend geht er dann in der Nachkriegszeit weiter. Nur so viel hier: Ludwig Laher las auch die Akten des gerichtlichen Nachspiels, das der Fall in der Nachkriegszeit sehr wohl noch hatte.

Das Werk von Gabriele Lotfi, das den historischen Rahmen zu Lahers Erzählung liefert, liest sich gewiss spröder und anstrengender als Dichtung, auch wenn die von solchen Schrecklichkeiten handelt. Denn Laher schreibt über Menschen und ihre Motive und versucht dabei sehr erfolgreich, das Geschehene dem Leser von diesen Motiven her begreiflich zu machen. "Herzfleischentartung" ist ein sehr menschliches Buch.

"KZ der Gestapo" aber hilft das bei Laher Gelesene einzuordnen. In Weyer war nichts einmalig, außer, dass die Staatsanwaltschaft des Dritten Reichs der SA in die Quere kam. Wo die Gestapo das Sagen hatte, konnte so etwas nicht passieren. In Lagern wie Oberlanzendorf gab es selbstverständlich eigene Friedhöfe und keine Totenbeschau.

Und keine Phantasiewörter wie "Herzfleischentartung", sondern falsche Todesursachen der gewöhnlichsten Art, und zwar am laufenden Band.

Herzfleischentartung Roman von Ludwig Laher, Haymon Verlag, Innsbruck 2001, 200 Seiten, geb., öS 248,- / e 18,02 KZ der Gestapo - Arbeitserziehungslager im Dritten Reich Von Gabriele Lotfi, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000, 452 Seiten, geb., öS 409,- / e 29,72

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