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Es lebt sich auch profitabel mit der Inflation

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Die Unternehmer haben längst gelernt, mit der Inflation zu leben, und zwar profitabel (S. 257). Die Löhne der Arbeiter in den straff organisierten Industriezweigen, insbesondere in den kapital- und wachstumsintensiven Sektoren, halten zumindest mit der Preisentwicklung Schritt oder haben die Nase voran (S. 258). Die wirklichen Opfer der Inflation (sind) diejenigen Mitbürger, die nur von ihren Renten und Pensionen leben, also nicht über eine zweite Einkommensquelle verfügen (S. 259). Nicht um dieser und anderer Binsenwahrheiten willen, die der Autor sehr pointiert aufzeigt, lohnt es sich, das Buch zu lesen. Die Sachverhaltsdarstellung wird spannend, wenn der Autor beschreibt, wie die alten Kämpfer im traditionellen Klassenkampf müde werden; wie die Antagonisten aus Großvaterstagen wohl oder übel Schicksalsgefährten angesichts des Perpetuum mobile des Industriesystems werden, dessen Steuerung ihnen sichtlich mißlingt; wie die immer größeren Tourenzahlen dieses Perpetuum mobile nach den Drehmomenten: immer mehr investieren — produzieren — konsumieren, das Staunen vor der unablässigen Produktivitätssteigerung in Angst verwandeln. Und wie solche Überlegungen die unangenehme Tatsache zutage fördern, daß es äußerst schwierig sein wird, sie, nämlich die Angst, in praktische Politik umzusetzen. Denn: direkte Kontrollen und Lenkungsmaßnahmen oder eine neue Philosophie (sie) des wirtschaftlichen Wachstum „wird es in überschaubarer Zukunft nicht geben“ (S. 253). Nicht nur die Wächter versagen; auch die traditionellen Wächter der Wächter sind nicht mehr auf Posten:

Kapitalisten kooperieren mit Kommunisten und Konzerne sind politisch indifferent (S. 137 ff.). In „sozialistischen Ländern“ des Ostens demonstrieren Gewerkschafter gegen die „rote Inflation“, die längst auch systemimmanenter Bestandteil der Kommandowirtschaft des dortigen Staatskapitalismus geworden ist. Dem Autor kommt das Verdienst zu, den Blick der Betrachtung von der gebannten Beobachtung der heftig vibrierenden Lohn-Preis-Spirale abzulenken auf jene lebensgefährliche Koexistenz mit der Inflation, bei deren notwendiger weltweiter Bekämpfung vorläufig die System/losig-keit, das Experiment von Fall zu Fall, System geworden ist. Denn: so wie in der Staatspolitik ist auch in der Wirtschaft das Steuer den Politikern zumeist aus der Hand geglitten und in die Hände der Bürokraten gelangt. Aber: wollten derlei die Technokraten nicht vom Anfang an? Indem sie feststellten: Organisation und Verwaltung der Industriegesellschaft ist eine rein administrative Frage. Das Interesse an dem Buch wächst, wenn ein Blick auf den Cover belehrt, daß der Autor dieser Anamnese der Stagflation Generalsekretär des internationalen Bundes der Chemiearbeiter in Genf ist, nachdem er zuvor eine ähnlich hohe Position im internationalen Metallarbeiterbund bekleidet hat. (Zuvor Schüler und Lehrer an Universitäten in Frankreich und Kanada.)

INFLATION. Das weltweite Phänomen. Von Charles Levinson. Übersetzung aus dem Englischen, Hoffmann und Campe, Hamburg 1972, 267 Seiten.

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