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Geisterhaftes Moskau

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Die Konjunktur der Bekehrungsfahrten ins erste Arbeiterund Bauern-Paradies ist vorbei. Ach, waren das Zeiten, als Protest-Intellektuelle und andere Publicity-Profis Moskau zum Mekka der Welterneuerung verklärten und sich von Lenin, dann von Stalin und Chruschtschow zu Sendboten von Lug und Trüg verführen ließen.

Die Enttäuschung, das Reuebekenntnis kam auch manchmal, hinterher. Ist Andre Gide vergessen, wärmt's Ives Montand auf. Die Pügerliteratur, auch ihre wissenschaftliche Aufarbeitung, scheint zurzeit erdrückt zu sein von der Masse der Distanzie-rungsliteratur, der Berichte von Apostaten, der abtrünnigen Bekenner, der abgesprungenen Funktionäre, der Flüchtlinge, der Ausgetriebenen und Ausgebürgerten — längst nicht mehr nur aus dem einen Roten Paradies.

Die Bewegung in die Gegenrichtung, in der Art der Revolutionsromantik, über die Trotzki spottete, ohne die Scheuklappen einer kreml-orthodoxen Gesinnung und Partei, und abseits des organisierten Glotztourismus, ist heute Sache des Einzelgängers. Als solchen sieht sich Karl Schlögel, ein Mittdreißiger, der mit „Moskau lesen" das Logbuch und die Bilanz seiner Erkundungsfahrt vorlegt, zur gleichen Zeit wie auch einen umfangreichen Report über den „Renitenten Helden" (Arbeiterproteste in der Sowjetunion 1953-1983).

Als Stilist möchte Schlögel an Musils Essay-Intention und an Walter Benjamins „Passagen"-Fragmenten gemessen werden, mit dessen „Moskauer Tagebuch" vom Winter 1926/27 nicht nur als geographischem Orientierungsmuster. Das geht zu oft daneben.

Zwar brachte Schlögels Entdek-kungseifer abseits des kanalisierten Tourismus eine staunenswerte Fülle von zu Unrecht unbeachteten Fakten der Stadtgeschichte zutage, und eine Vielzahl von Illustrationen bekräftigt diesen Gewinn. Doch als allzu ambitionier-ter Autor hemmt Schlögel selbst das Aufnehmen in der von ihm beabsichtigten Weise.

Schlögel postiert sich „zwischen den Fronten", wechselt aber durchgehend von der einen zur anderen und kann die Spannung zwischen der empirischen Kritik am Sowjetsystem und seiner Zuneigung zur anderen Geschichte Rußlands und Moskaus doch immer nur mit der vagen Beschwörung erhofften Neubeginns dämpfen.

Schon Intourist weicht bekanntlich überwiegend aufs Vorsowjetische aus. Das wiederholt sich bei Schlögel; er wird dadurch noch mehr ins Abgelegene, offiziell Verschwiegene gedrängt. Also in die „Silberzeit" der russischen Kultur von 1914 und in die turbulenten zwanziger Jahre. Moskau wird mit den Resten seiner Geschichte vergegenwärtigt, als Ge-gen-Institution zu St. Petersburg (Petrograd — Leningrad), als — unrealisiert gebliebene — Superstadt sozialistisch-kommunistischer Zukunft.

Von den Monsterplänen zur Neugestaltung Moskaus her läßt Schlögel freundliches Licht auf Stalins Zuckerbäckerburgen fallen. Megalomane Protzprojekte, die Rückständigkeit kompensieren und vor aller Welt auftrumpfen sollten, werden als Tempel eines grandiosen Zukunftswillens gedeutet; so wird den Plänen und den bösen Folgen doch noch die Weihe ideologischen Wohlgefallens zuteil.

Trotz der Faktenfülle bleibt die Stadt geisterhaft, denn als

(himmlisches) Jerusalem ist sie heute inmitten des Alltags längst Ungläubiger und Gleichgültiger zu imaginieren. In Gläubigkeit ist die Wallfahrt nicht mehr durchzuhalten, sie muß von Projekt-und Projektionsarchäologie ersetzt werden.

Die höllische Normalität des „Realsozialismus" bleibt im dunkeln. Der Moskau-Zeichner ist ein einsamer Stadt-Vermesser, er ist Auge und Fuß, kontakt- und geschlechtslos. Der Dialog mit der Stadt ist fiktiv, statisch, eine Projektion, ein Selbstgespräch. Moskau ersteht nicht als das Polypenhirn des Imperiums, der eurasi-schen Kolonialmasse. Eher werden die Bewohner der Stadt von einst sichtbar als unsere Zeitgenossen.

Schlögel macht sich sein verqueres Engagement nicht leicht. Er wirbt, dafür werden allerdings auch Opfer gebracht: wird weggelassen oder aufgerechnet, verschönt, alles mit Westeuropäischem Verbindende hervorgekehrt, polemisch gestichelt. Er meint, gegen den Strom zu schwimmen, fördert aber doch bloß die heutige Konjunktur, die Anbiederung, die ängstliche Selostpreisgabe.

Moskau lesen? Eher erscheint angebracht, aber es ist nicht eben populär, Moskau zu sehen, wie es ist.

MOSKAU LESEN. Von Karl Schlögel. Wolf Jobst, Siedler Verlag, Berlin 1984.224 Seiten.

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