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Schüsse am Strand

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Zwei Häuserblocks von der „Casa Rosada“, dem argentinischen Präsidentenpalais, liegt die staatliche Entwickkingsbank. 15 Guerilleros vom ERP („Ejercito Revolucionario Populär“ — „Revolutionäres Volksheer“) wurden von zwei Bankbeamten, die mit ihnen unter einer Decke steckten, abends in das Gebäude eingelassen. Sie sperrten 13 Funktionäre ein, schlössen den Tresor auf, aßen nach getaner Arbeit Huhn, tranken Champagner und verschwanden in gestohlenen Autos mit dem Gegenwert von etwa 450.000 Dollar. Andere Mitglieder dieser Gruppe überfielen gepanzerte Geldtransporte und im Zeitraum von vier Tagen drei Züge auf der Strecke nach dem Ozeanbadeort Mar del Plata und raubten den Passagieren Geld, Uhren und Schimuck. Es kam zu zahllosen Zusammenstößen mit Polizei und Guerilleros. Bomiben-attentate gegen Warendepots von Supermarkets (Rockef eller-Gruppe), Mitglieder der nordamerikanischen Botschaft oder führende Persönlichkeiten der Oligarchie sind an der Tagesordnung. Im Zentrum von Buenos Aires rauhten die Guerilleros des ERP kürzlich 9326 Perük-ken. In C rdoba wird der Schulautobus, der Kinder aus der dortigen Luftwaffengarnison befördert, aus Angst vor Entführungen stets von einem Soldaten mit schußbereitem Gewehr begleitet. In Rosario wurde im Mai der englische Konsul und Swift-Manager entführt. Nach einer Woche wurde er freigelassen. Swift erfüllte vorher die Forderung der Guerilleros und verteilte Lebensmittel, Decken und Kleidung dm Werte von 60.000 Dollar. Der General der dortigen Heeresgruppe, Sänchez, erklärte, er halbe 85 Prozent der Guerilleros eliminiert, 36 von ihnen verhaftet und einen „Volkskerker“ gefunden. Nach seinen Angaben waren 68 Prozent der Aktivisten Studenten und 22 Prozent Arbeiter.

Obwohl die Zahl der Guerrilla-organisationen unbekannt ist, lassen sich zwei große Gruppen unterscheiden: das genannte ERP und die FAL („Fuerzas Armadas de Liberaciön“ — „Befreiungsheer“) sind marxistisch orientiert. Drei andere, die FAP („Fuerzas Armadas Peronistas“ — „Peronistische Streitkräfte“), die FAR („Fuerzas Armadas Revo-lucionarias“ — „Revolutionäre Streitkräfte“) — ein Pateriktad von Che Guevara — und die „Monto-neros“, eine aus linkskatholischen Kreisen entstandene Bewegung, die ihren Namen auf die Reitertrupps des argentinischen Diktators Juan Manuel de Rosas im vorigen Jahrhundert zurückfuhrt, haben sich zu einer gemeinsamen Organisation, die nicht „marxistisch“, sondern „pero-nistisch“ orientiert ist, zusammengefunden.

Karneval mit Straßenschlachten

Der größte Badeort Lateinamerikas ist das an der argentinischen Ozeanküste gelegene Mar del Plata. Zu dem viertägigen Karneval strömten heuer etwa 200.000 Argentinier in dieses „Mekka des Mittelstandes“. In dem riesigen Kasino wurden an einem Nachmittag 291.000.000 „alte“ Pesos (rund 14 Millionen Schilling) gesetzt. Aber diese Badestadt ist voller Spannungen. Seit vor einigen Monaten die 17jährige Architektur-Studentin Silvia Filier bei einer Studentenversammlung von rechtsradikalen Elementen erschossen wurde, gärt es unter der akademischen Jugend. Hinzu kommt, daß es einheimische „Patotas“ gibt, die früher die Kriminalisten als eine typisch lateinamerikanische Erscheinung darstellten: Banden Halbwüchsiger, deren Mitglieder als Individuen außerordentliche Feigheit, aber als „Kollektiv“ eine nicht minder ausgeprägte Aggressivität an den Tag legen. Raubüberfälle und Vergewaltigungen sind ihr Spezialgebiet.

Die jugendlichen Unruhestifter schleuderten nun während des Karnevals Steine und Flaschen auf die Polizei, errichteten Barrikaden, die sie mit Petroleum begossen und anzündeten; es kam zu regelrechten Straßenschlachten mit weit über 100 Verhafteten und zahllosen Verletzten. Bei einer von ihnen schoß die Polizei innerhalb weniger Stunden über 800 Tränengasgranaten ab. Aber auch am Strand führte das Waisserwerfen zu heftigen Zusammenstößen, wobei Unbeteiligte, vor allem auch Frauen und Kinder, getroffen wurden. Panik war die Folge. I Die Vorfälle sind symptomatisch für . eine Periode, in der nicht nur die Guerilla das Klima der Gewalttätigkeit anheizt, sondern auf der einen Seite die Aggressionstriefoe der Jugend und auf der anderen Seite die Nervosität der Polizei alarmierend zunehmen. Die „Ordnungs-kräfte“ haben bisher keinen Erfolg mit ihren Protesten wegen unzureichenden Gehältern und schlechter Verpflegung im Dienst gehabt.

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