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Studiertes Chaos

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Der staatsgefährdende Kampf zwischen der ultrarechten „AAA“ („Ali- anza Anticomunista Argentina“), neuerdings auch „Dreifaches A“ genannt, auf der einen Seite und den linksradikalen Kommandos der trotzkistischen Guerilleros „ERP“ („Ejėrcito Revolucionärio del Pueblo“) und den ex-peronistischen „Montoneros“ auf der andern, vollzieht sich auch auf akademischer Ebene. Die Führungskräfte, die seit dem Beginn der neuen peronistischen Regierungs-Epoche — dem 25. Mai 1973 — die „Demokratisierung der Universität von Buenos Aires“, wie sie sagen, oder die „Radikalisierung“, wie die jetzige Regierung es nennt, herbeigeführt haben, sind auf der Flucht. Die „AAA“ hat etwa 18 politische Gegner, darunter den Bruder des Ex-Präsidenten Frondizi, Silvio Frondizi, der als marxistischer Ideologe und Strafverteidiger von Guerilleros bekannt war, „hingerichtet“. Sie haben weiter das gleiche Schicksal zahlreichen linken Prominenten angedroht, wenn diese nicht binnen Stundenfrist das Land verließen. Der frühere Erziehungsminister, der „Altperonist“ Jorge Taiana, und die (linksgerichteten) Rektoren Rodolfo Puiggrös mit seiner Frau ,Adriana Puiggrös, Dekanin der philosophischen Fakultät, und Raul Laguzzi (dessen vier Monate altes Kind bei einem Bombenattentat getötet wurde) sind nach Mexiko emigriert.

Das Zepter führt jetzt der ultra- nationalistische Erziehungsminister Oscar Ivanessevich. Er hat als In- terventor der bonaerenser Universität, die mit 180.000 Schülern in jeder Beziehung den Mittelpunkt des argentinischen Hochschullebens bildet, Alberto Ottalagano eingesetzt. Dieser hat Jura und (an der Sorbonne) Philosophie studiert, kommt ursprünglich von der „Falange der Alianza Libertadora Nacionalista“, der vor zwei Jahrzehnten gefürchteten faschistischen Organisation und hat dann fanatisch erst für den „katholischen Nationalismus“ und dann für den Peronismus gekämpft. (Er entkam vor wenigen Tagen den Schüssen eines Attentäters, ines Polizeiagenten, der zu seiner Bewachungsmannschaft gehörte, so daß der politische Hintergrund unklar bleibt.)

Die „neue Richtung“ wird am besten aus einer Rede deutlich, die der Erziehungsminister Ivanessevich Mitte September über Rundfunk und Fernsehen hielt. Er nannte die Universitäten aufrührerisch und erklärte, er wolle die „in einem materialistischen Internationalismus verlorene Seele der argentinischen Schule retten“, wobei er meinte, man könne „nicht dulden, daß einige die weiß-blaue Fahne in einen roten Fet zen verwandeln.“ Einer seiner Parteigänger, Rodolfo Tecera del Franco, der als zukünftiger Rektor der Universität im Gespräch ist, erklärte, die Präsenz der Ideologie auf den Lehrstühlen habe die wissenschaftliche Qualität untergraben. Die ideologische Position sei das einzige Element, das für die Ablegung von Examen entscheidend sei; wer das Vorlesungsverzeichnis zur „Einführung in das Recht“ durchblättere, finde nur Lenin, Fidel Castro, Stalin, Marx und Perön, der als das sozialistisch-marxistische Modell dargestellt werde, das er nie war.

Die gestürzten Lehrkräfte bestreiten, daß an der Universität eine Unordnung geherrscht habe, die als juristische Voraussetzung für die Intervention gelten könne. Sie sprechen von einem „völlig neuartigen Experiment in der westlichen Welt“; sie hätten das totale Mitbestimmungsrecht der Studenten eingeführt und die „elitäre und volksfremde Universitätswissenschaft beseitigt“. So sei im ersten Semester der Architektur-Fakultät als Seminaraufgabe das Zeichnen eines „Grabmals für einen jungen Poeten“ vorgeschrieben gewesen, während sie selbst statt dessen die Planung eines Gebäudekomplexes für sozialen Wohnungsbau eingeführt hätten. Sie rechtfertigten die Vertreibung von prominenten Professoren der Wirtschaftswissenschaft damit, daß diese als Anwälte oder Berater internationaler Firmen dienten und damit das „nationale Interesse“ zurückstellten. Ihr Ziel sei gewesen, die „Feudal-Universität“ in eine „Volks-Universität“ zu verwandeln. Aber auch sie müssen zugeben, daß Kollegs und Seminare in solchem Grade zu ideologischen Debattierklubs wurden, daß die Studenten der Rechts- und Wirtschafts-Fakultät in Cafes und Familienhäusern

— oft mit Hilfe des Lehrpersonals

— „heimlich“ lernten, weil die Universität ihnen keine Möglichkeit dazu gab. Wochenlang hielten sie ihre Lehrstätten besetzt. Dabei wurden Kollegs auf die Straße verlegt. So saßen die Studenten auf den Fahrdämmen auf ihren Büchern und hörten eine Vorlesung ihrer Dekanin Adriana Puiggrös über das Thema „Rede im Kolonialparadies“, bis die Polizei sie vertrieb. Doch gehören so merkwürdige Vorlesungen weiter zum Ritus der „Befreiungspropaganda“. Bei zahlreichen Straßen- Demonstrationen griff die Polizei ein, die die Studenten wegen „polizeiwidrigen Verhaltens“ zunächst einmal auf 30 Tage einsperrte. Als Taiana durch Ivanessevich ersetzt worden war, zogen Lehrer und Schüler der Agronomie-Fakultät ihre Lehrstücke, Kühe und Kaninchen, auf die „Avenida San Martin“, um den intensiven Straßverkehr mit dieser Kundgebung zu stören. Obwohl die Studenten im Protest gegen die Absetzung des früheren Erziehungsministers die Fakultäten „friedlich besetzten“, wurden am 22. August Vorlesungen „zur Ehrung der in Trelew Gefallenen“ gehalten. (In dieser Marinebasis wurden vor einem Jahr 17 Guerilleros „auf der Flucht erschossen“.)

In dem Widerstand gegen die Intervention sind sich die drei im Studentenausschuß vertretenen (peronistischen, liberalen und kommunistischen) Gruppen einig. Während der Oberste Justizialisten-Rat dem Kultusminister Ivanessevich sein Vertrauen ausgesprochen hat, wider- setzt sich die zweitgrößte Partei, die „Union Civica Radical“ Dr. Ricardo Balbins dem rechtsradikalen wie dem linksradikalen Kurs. (Sie veröffentlichte in den ersten Oktobertagen eine „politische Erklärung“, in der es hieß: „Es ist richtig, daß die Universitäten, vor allem jene von Buenos Aires, ein übertriebenes Sektierertum zeigten, das verurteilt werden mußte. Aber während … sich eine Lösung anbahnte … erhob der Finanzminister ein Kriegsgeschrei, griff alle gleichzeitig an und bestritt sogar dem Staat das Recht zu wissenschaftli- ■ eher Untersuchung. Gleichzeitig führte er eine Intervention durch, um die Wissenschaft ausschließlich wiederaufgetauchten antidemokratischen Persönlichkeiten zu überlassen.“)

Ob dieses Lehrjahr verloren ist und wie sich die angekündigte „Reinigungsaktion“ auf das Schicksal nicht nur der Lehrer, sondern auch der Studenten auswirken wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls führt es zu einer unhaltbaren Situation, daß durch den Wegfall der Aufnahmeprüfung in die „Volks-Universität“ die Zahl der Studenten um

80.0 erhöht bleibt, während gleichzeitig die seit dem Regimewechsel eingestellten linksgerichteten Lehrkräfte eliminiert werden.

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