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Torheit, zu sterben

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Der Beobachter der heutigen argentinischen Szenerie fühlt sich an die Epoche der Weimarer Republik erinnert, als 300 Prominente — unter ihnen Rathenau — ermordet wurden und Straßenkämpfe zwischen „Rotfront“, „Reichsbanner“, „Stahlhelm“ und „SA“ zum deutschen Alltag gehörten.

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Der Beobachter der heutigen argentinischen Szenerie fühlt sich an die Epoche der Weimarer Republik erinnert, als 300 Prominente — unter ihnen Rathenau — ermordet wurden und Straßenkämpfe zwischen „Rotfront“, „Reichsbanner“, „Stahlhelm“ und „SA“ zum deutschen Alltag gehörten.

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Ein intimer Kenner des argentinischen Geheimdienstes, General Martini, hat die Anzahl der aktiven Linksguerilleros auf 40.000 und mit allen Hilfstruppen auf 200.000 geschätzt. In solcher Größenordnung des Terrors wird der Bürgerkrieg vom Angsttraum zur realen Möglichkeit. Wenn auch zuweilen jetzt vier Morde in 24 Stunden aufgedeckt werden, gibt dennoch ihre Anzahl — etwa 150 in vier Monaten — ein unzulängliches Bild der Gefahr. Auch die noch nicht 100 Entführungen meist prominenter Manager sind nur eine Randerscheinung, mag auch das Lösegeld von mehr als 650 Millionen Dollar dem trotzkistischen ERP („Ejército Revolucionário del Pueblo“ — „Revolutionäres Volksheer") eine alarmierende Bewegungsfreiheit gewähren, abgesehen davon, daß Angst die Wirtschaft lähmt. Die Linksradikalen — außer dem ERP vor allem die „linksperonistischen“ „Montoneros“ — verkünden nicht nur ihre „Todesurteile“, sondern vollstecken sie auch, zuletzt an dem Chef der Bundespolizei, Generalkommissar Villar, und seiner Frau. Das Wüten der rechtsradikalen AAA („Alianza Anticomunista Argentina“ — „Antikommunistische Argentinische Allianz“) ist die Antwort auf den Linksterror. Sie will die revolutionäre Schicht beseitigen, die in der kurzen Epoche von Peróns Strohmann, Dr. Cámpora, in Schlüssel stellungen gelangt ist, während die Linksradikalen die konservativnationalistische Gruppe dezimieren wollen, die zur Zeit an der Macht ist. Zwischen beiden Aktionen wird der Staatsapparat zerrieben. Dabei erweist sich das Drohen mit dem Tode noch wirksamer als die Tötung selbst. Acht Politiker der peronisti- schen Provinzparteien, acht der liberalen „Unión Civica Radical“, sieben der „Sozialistischen Arbeiterpartei“, der führende Christdemokrat Doktor Horácio Sueldo und zahlreiche Kommunisten, ein prominenter Priester der Dritten Welt. Monsignore Podesta, Universitätsrektoren und -Professoren, Journalisten und zahlreiche Künstler haben das Land verlassen, weil die AAA drohte, sie widrigenfalls nach 72 Stunden zu ermorden.

Die Reaktion der Sicherheitsorgane auf die Terroristen ist sehr verschieden. Während gegen die Linksradikalen eine intensive Kampagne geführt wird, häufig blutige Kämpfe stattfinden und innerhalb von sechs Monaten etwa 900 von ihnen verhaftet wurden, hört man von ihrem Eingreifen gegen die rechtsradikale AAA kaum etwas. Trotz der Fülle von Morden und Morddrohungen der Rechtsextremen ist kein einziger von ihnen verhaftet worden. Es ist bezeichnend, daß der Sozialminister López Rega, in dem viele den Spi-

ritus rector der derzeitigen Regierung sehen, offiziell die Gerüchte dementieren mußte, nach denen er den Gegenterror der AAA organisiert hábe. Ob sie nun eine „parapolizeiliche Truppe“ ist oder sich nur wohlwollender Duldung der Behörden erfreut — in jedem Falle ist sie ebenso undurchsichtig wie gefährlich. In ihr werden die ultranationalistischen Kräfte, die sich in den früheren Jahrzehnten als Parteigegner Francos und Mussolinis legitimierten, wieder hochgespielt. Einer ihrer bekanntesten Vertreter, der jetzige Erziehungsminister Oscar Ivanissevich, hat zum Interventor der Bonaeren- ser Fakultät für Exakte Wissenschaften den Ingenieur Raül A. Sar- dini eingesetzt. Dieser erklärte in einem Presseinterview, er fühle starke Sympathien für Mussolinis Staatsmodell und finde es „töricht, daß Leute sich bereit erklären, für die Demokratie zu sterben“. Die „Alianza Libertadora Nacionalista“, vor 30 Jahren Peróns SA, identifiziert sich mit Mitgliedern der „Isa-

belita“-Regierung, die aus ihren Reihen hervorgegangen sind. Kürzlich erließ man ein Gesetz, nach dem die

Reste des vor mehr als 100 Jahren verstorbenen argentinischen Diktators Juan Manuel de Rosas aus dem spanischen Exil nach Argentinien überführt werden sollen. Die „Alianza Libertadora Nacionalista“ feierte dieses Ereignis mit einer Massenkundgebung, in deren Verlauf auch ihre alte antisemitische Platte wieder aufgelegt wurde. (Die Regierung sprach hierüber offiziell ihr Bedauern aus.)

Bei der Beerdigung eines von den Linksextremisten ermordeten Führers der „Alianza Restauradora Nacionalista“, Jordán Bruno Genta, wandte sich einer ihrer Sprecher (Dr. Luís Terra) gegen das jetzige Regime, gegen „Liberalismus, Freimaurerei, Peronismus und Zionismus“ und verurteilte „die Vaterlandslosen, die Gottlosen und die als Nationalisten! verkleideten Marxisten".

Kardinal António Caggiano sagte nach der Ermordung Villars in einer Predigt: „Brüder von uns haben den Terror gewählt, um unser verfassungsgemäßes Regime zu zerstören und es durch ein materialistisches des Staats-Sozialismus zu ersetzen“. Aber bei dem Sturm von Rechts und Links, dem das so prekäre argentinische demokratische Regime standzuhalten sucht, ist eine faschistische Rechtsdiktatur eine eberfso cfrohende Gefahr wie die Volksdemokratie.

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