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Der Zauberlehrling

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Jahrelang wurde das Spannungsfeld der lateinamerikanischen Revolution von dem Gegensatz zwischen den Regierungen und den von Kuba ermutigten Terroristen bestimmt. Der völlige Mißerfolg der ländlichen und der Abstieg der städtischen Guerilleros auf der einen Seite und der Aufstieg linkspopulistischer Regierungen auf der anderen haben in den letzten Jahren das Bild verändert. Die diktatoriale Linksregierung des Generals Velasco Alvarado in Peru und die Volksfrontregierung Dr. Allendes in Chile haben die Guerilleros begnadigt, ohne ihre Methoden zu billigen — unter der Voraussetzung, daß sie ihre Waffen niederlegten.

In Venezuela hatte deri christdemokratische Präsident Dr. Rafael Caldera mit einer ähnlichen Befriedungsaktion nur relativen Erfolg. Die Haltung Dr. Cämporas zur Guerilla erschüttert die dieser Rechtsauffassung zugrunde liegende „Kulturnorm“, weil er die Terroisten nicht nur begnadigt, sondern hre Tätigkeit als gerecht darstellt, [n seiner mehrstündigen Antritts ede vor dem argentinischen Kongreß erklärte er: „Die Jugend wußte n schwierigen Zeiten auf Gewalt nit Gewalt zu antworten ... Das Valeriana ist eine Ehrenverpftichtung inseren Helden und unseren Mär-yrern gegenüber eingegangen, von ler niemand und nichts es trennen vird.“

Bei den anschließenden Massen-iemonstrationen vor der „Casa Roiada“ — mit Toten, Verletzten und verbrannten Autos — traten die ,Montoneros“, die peronistische rreischärlerorganisation, die sich ies Mordes am Expräsidenten ^ramburu und ähnlicher Attentate •ühmt, mit riesigen Spruchbändern n Erscheinung. Wenige Stunden ipäter tobten 50.000 Menschen vor iem Hauptgefängnis „Villa Devoto“. 'eronistische Abgeordnete und Anwälte verhandelten innerhalb und außerhalb der Strafanstalt mit dem neuen Innenminister Dr. Esteban Ricci. Gleichzeitig veranstalteten die nicht verhafteten Guerilleros, zum reil in Kapuzen, eine Art Parade vor dem Gefängnis. Dr. Cämpora verfügte über Rundfunk und Fernsehen die Befreiung aller politischen Gefangenen. Das dahingehende Gesetz wurde von beiden Häusern des Parlaments mitten in der Nacht gebilligt. 371 Gefangene wurden befreit — darunter auch die Mörder des Altpräsidenten Aramburu und des italienischen Industriellen Sallu-stro — und in einem Triumphzug, an dem mehr als 1000 Kraftwagen teilnahmen, durch Buenos Aires geführt. Niemand sprach davon, daß die Terroristen ihre Waffen abzuliefern hätten.

Die Freilassung und noch mehr die Legitimierung der Guerilleros schafft zunächst einen internen Unruheherd. Zu seiner Beurteilung muß zwischen den peronistischen und den trotzkistischen Terrororganisationen unterschieden werden. Die „Montoneros“ und die „FAR“ („Fuerzas Armadas Revolucionä-rias“) verteilten Flugblätter, nach denen „die einzige Garantie für das Volk die totale Machtergreifung durch General Perön ...“ sei, „um den Weg zum nationalen Sozialismus zu öffnen“. Nun weicht die Vorstellung, die der reformistische Präsident Dr. Cämpora von der „sozialen Gerechtigkeit“ hat, gewiß weit von den Wunschträumen ab, die Innerhalb der peronistischen „Spe-zial verbände“ bestehen. Trotzdem deuten mannigfache Manifestationen darauf hin, daß Perön vielleicht nach seiner Rückkehr der eigenen Jugend Herr wird, mag er sie auch durch scharfe Töne zu falschen Hoffnungen verführt haben.

Die Gefahr für die innere Stabilität des Regimes geht im Augenblick nicht von der peronistischen Jugend, sondern von den trotzkistischen Guerilleros aus. Ihr „ERP“ („Ejercito Revolucionäxio del Pueblo“) erklärte, daß Cämpora die revolutionären Forderungen in keiner Weise erfüllt habe. Sie verlangen sofortige Enteignung der Latifundien und der Großindustrie

— ohne Rücksicht auf Nationalität

— und wollen ihren blutigen Kampf gegen die „Kapitalisten“ und die „konterrevolutionären Streitkräfte“ fortsetzen. In diesen Rahmen paßt, daß sie den am 1. April entführten Konteradmiral Francisco Aleman nicht, wie in Geheimverhandlungen versprochen, sofort nach der Befreiung ihrer Aktivisten aus dem Gefängnis aus ihrer „Volkshaft“ entließen, sondern einer Bonaerenser Fernsehstation einen Film schickten, in dem er vor dem „Volksgericht“ wegen des „Massakers von Trelew“ (Erschießung von 17 ERP-Terroristen) „angeklagt“ wird. Obwohl man jetzt die Freilassung Alemans erwartet, halten die Erpressungsaktionen des ERP gegen die Industrie an. Nach blutigen Attentaten gegen zwei führende Funktionäre der Ford-Motor-Company „spendete“ diese eine Million Dollar „für wohltätige Zwecke“. Als der „ERP“ gleiche Drohungen der OTIS-Elevator^Gesellschaft zugehen ließ, evakuierte diese ihr ausländisches Führungspersonal — 13 Familien, etwa 50 Personen — sofort im Flugzeug nach Brasilien. Perön ruft zum Kampf gegen die Provokateure aus den Reihen der „Reaktionäre“ und der Trotzkisten auf. Aber die Attentate seiner „Spezial-formationen“ unterscheiden sich in Motiv, Methode oder Ziel keineswegs von den jetzt von ihm Verurteilten. Cämpora steht vor der Alternative, denselben Terror, den er pries, zu verdammen oder das Chaos im Innern und das Mißtrauen der von ihm umworbenen ausländischen Kapitalskreise zu riskieren. Er ähnelt dem Meister, der, wie in Goethes „Zauberlehrling“, die Geister, die er rief, nicht mehr los wird.

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