Die Sanduhr läuft ab
Sand ist der am meisten abgebaute Rohstoff der Welt – und der Nachschub wird knapp. An der Entwicklung von Alternativen wird geforscht.
Sand ist der am meisten abgebaute Rohstoff der Welt – und der Nachschub wird knapp. An der Entwicklung von Alternativen wird geforscht.
Wer hätte gedacht, dass Sandmännchen einmal ein gefährdeter Handwerksberuf wird? Nicht weil sich niemand mehr für den Traumjob findet, sondern weil die ausreichende Versorgung mit Sand zum Albtraum wird. "Sand und Kies machen den größten Anteil aller weltweit geförderten Materialien aus - noch vor fossilen Brennstoffen und Biomasse", sagt die deutsche Biodiversitätsforscherin Aurora Torres. Ohne Sand würde das gegenwärtige Wirtschaftsleben im wahrsten Sinne des Wortes zerbröseln, denn das Leben der Menschheit ist buchstäblich auf Sand gebaut. Der stetig zunehmende Städtebau und die fortschreitende Expansion des urbanen Lebens mit all seinen Technologien sind Hauptgründe für den steigenden Bedarf. Neben Luft und Wasser ist Sand die meistgenutzte natürliche Ressource der Erde. Von den jährlich abgebauten 47 bis 59 Milliarden Tonnen an Erzen, Salzen, Kohlen sowie Steinen und Erden machen Sande bis zu 85 Prozent aus. Der Nachschub wird allerdings immer knapper, denn Sand ist keine schnell nachwachsende Ressource. Der Sand von heute ist während Millionen von Jahren entstanden.
Auswirkungen auf Ökosysteme
Die von Aurora Torres in der Fachzeitschrift Science federführend verfasste Studie "A looming tragedy of the sand commons" sorgte deshalb 2017 nicht nur für Anerkennung in der Wissenschaft, sondern provoziert seither ein für dieses eher spröde Wissenschaftsthema ungewöhnlich lautes Medienecho. Torres arbeitet am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) der Universität Leipzig. Auf die Frage, ob sich mit ihrem Artikel das Sand-Management in Richtung Nachhaltigkeit verändere und die politische Ebene dem Thema heute mehr Aufmerksamkeit schenke, verweist Torres auf ein konkretes Beispiel, dass "unsere Publikation die Erforschung eines potenziellen Sandbergbau- und Handelsunternehmens in Grönland ausgelöst hat". Veränderungen in der politischen Agenda erforderten noch mehr Zeit, sagt sie "aber NGOs wie der World Wildlife Fund (WWF) haben begonnen, das Thema voranzutreiben und versuchen, es auf die globale Agenda zu setzen." In Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Forschern aus Brasilien, Großbritannien, Deutschland und Spanien startete Torres zudem eine systematische Überprüfung der Auswirkungen der Sand-, Kies-und Zementförderung auf Biodiversität und Ökosysteme. Dazu gehört auch die Erstellung einer Datenbank über die vom Sandabbau bedrohte Arten.
Neuer Goldrausch
Wie etwa dem Gangesgavial, eine in asiatischen Flüssen beheimatete Krokodilart. Mit dem Abbau der Sandbänke wird nicht nur ihr Lebensraum zerstört. Der "Sandraub" lässt Flussbette absinken und Küsten erodieren. Schutzmechanismen, die eigentlich Stürme und Tsunamis abhalten, werden außer Kraft gesetzt; Süßwassersysteme kollabieren. Als Beispiel für den Ökosysteme und Biodiversität zerstörenden Sandabbau nennt Le Monde diplomatique die Küsten Marokkos: An vielen Stellen ist die Dünenlandschaft, die als "Speicher und Nachfüllreservoir" für die Sandstrände unentbehrlich ist und diese zugleich wie ein Puffer vor Stürmen schützt, bereits irreversibel zerstört. Trotz dieser Bedrohung und ungeachtet der Proteste der Einheimischen geht die rücksichtslose Sandgewinnung unvermindert weiter.
Illegaler Sandabbau löst auch schon Spannungen zwischen Nachbarländern aus. Singapur zum Beispiel sanierte seine Küstenzone mithilfe von Sand, der illegal in Nachbarstaaten abgebaut wurde. Für Schlagzeilen sorgte ein dreister Sandraub auf Jamaika vor zehn Jahren: Über Nacht stahlen Sanddiebe den 400 Meter langen Strand von Coral Springs. 500 Lkw-Ladungen feinster Sand wurden abtransportiert. Zurück blieb ein ruiniertes Meeresufer. Medien spekulierten damals, der Sand sei entweder zur Aufschüttung eines anderen Strandes benutzt oder in der Bauindustrie verwendet worden. Sicher ist hingegen, dass der Raub ein lukratives Geschäft war. In vielen Ländern ist aufgrund der großen Nachfrage eine "Sand-Mafia" entstanden. "In Indien gilt die Sand-Mafia schon jetzt als eine der mächtigsten und gewalttätigsten Gruppen des organisierten Verbrechens. Hunderte Menschen sind bereits in Sandkriegen getötet worden", sagt Torres. Im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh wurde im März des Vorjahres der Journalist Sandeep Sharma von einem Muldenkipper überfahren. Er hatte über die Sand-Mafia und deren Unterwanderung der lokalen Polizei recherchiert. Der preisgekrönte französische Dokumentarfilm "Sand Wars"(2013) zeigt die weltweiten Dimensionen dieses neuen Goldrauschs und schließt mit der Feststellung: Die Sandkriege haben bereits begonnen.
Warum eigentlich, so die naheliegende Frage, gibt es Sand doch wie "Sand am Meer"? Nein, denn Sandkorn ist nicht gleich Sandkorn. Wüstensand ist für die Herstellung von Beton nicht geeignet. Die Körner sind vom Wind so glatt und rund geschliffen, dass sie sich zu wenig verkeilen, bröseligen statt kompakten Beton produzieren. Das Meeressandkorn ist ebenfalls nicht für alle Bereiche geeignet, da es zu salzig ist. Viele Bausandvorkommen sind wiederum nicht zugänglich, weil sie entweder überbaut sind oder unter Naturschutz stehen. Der Sandnachschub aus den Flüssen wird aufgrund der vielen Staudämme weniger. Die Flüsse der Welt transportieren laut dem deutschen Helmholtz-Zentrum für Material-und Küstenforschung jedes Jahr rund 13 Milliarden Tonnen Sand -nur mehr ein Fünftel erreicht die Ozeane.
UNEP-Report: Sand und Nachhaltigkeit
Die Nachfrage nach Sand steigt hingegen unaufhörlich: "Sand ist der Megastar unseres industriellen und elektronischen Zeitalters", heißt es in einem Artikel der ETH Zürich. Der globale Bedarf übersteigt bei Weitem das, was durch Verwitterung nachkommt. "Die Masse an Sand, die gebraucht wird, hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht", rechnet Pascal Peduzzi vom UN-Umweltprogramm (UNEP) in Genf vor. Soeben wurde ein neuer Report zum Thema "Sand und Nachhaltigkeit" vorgestellt: "Wir schätzen den derzeitigen Verbrauch auf 50 Milliarden Tonnen pro Jahr -das sind 18 Kilogramm täglich für jeden Einwohner der Erde." Allein mit dem Jahresverbrauch des Bausektors könnte man laut Peduzzi "eine 27 Meter hohe und 27 Meter breite Mauer rund um den Äquator aufschütten". Sand und seine Derivate werden aber nicht nur in der Bauindustrie verwendet, sie stecken auch in Glas, Asphalt, Kosmetika, Zahnpasta, Mikrochips, Smartphone-Bildschirmen, Autos oder Flugzeugen. Das aus Sand gewonnene Siliciumdioxid (SiO2) wird auch in der Weinindustrie und vielen Lebensmitteln verwendet. "Sand ist zum globalisierten Rohstoff geworden, mit den USA als größtem Exporteur und Singapur als größtem Importeur", berichtet Sandforscherin Torres.
"Tragik der Allmende"
An der Entwicklung von Alternativen zu Sand wird geforscht: Baustoff-Recycling und Versuche, Wüstensand für das Bauen nutzbar zu machen, gelten als vielversprechend. Aber das Problem sei komplex, wie Torres erläutert: "Bisher hat noch niemand eine Lösung gefunden, die den riesigen Hunger nach Sand stillen könnte." So wie andere Gemeingüter leide auch Sand an der "Tragik der Allmende". Als frei verfügbare, aber begrenzte Ressource ist Sand so wie Wasser und Luft bedroht.
Das UNEP wirbt nun für Regeln, um festzulegen, wie viel Sand wo schonend abgebaut werden kann. Torres fordert hierzu weitere Studienprojekte, die weltweite und regionale "Sandbilanzen" liefern. Zudem brauche es mehr Effizienz und strenge Kontrollen bei der Sandgewinnung sowie eine Überwachung dieser für Korruption und Kriminalität anfälligen Branche: "Wir müssen die Vorgänge an den Orten verstehen, an denen Sand abgebaut bzw. eingesetzt wird -und an den vielen Zwischenstationen, die darunter leiden oder davon profitieren. Das ist für realistische Bewertungen der Nachhaltigkeit nötig." Es brauche eine "globale Governance-Strategie für Sand, um Katastrophen zu vermeiden", sagt Torres und -so möchte man hinzufügen -um den schlimmsten Alptraum des Sandmännchens zu verhindern.