Sonne - © Bild von KBCH auf Pixabay

"Inventar des Sommers": Sonnentänze und Dämmerstrahlen

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Raoul Schrott erkundet in seiner prosalyrischen Abhandlung „Inventur des Sommers“ Dimensionen des Abwesenden.

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Raoul Schrott erkundet in seiner prosalyrischen Abhandlung „Inventur des Sommers“ Dimensionen des Abwesenden.

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Sie ist vermutlich eine Unbekannte: Hepat-Musuni, die uralte, für die Rechtsprechung zuständige Göttin aus Kleinasien und dem Nahen Osten. Später soll sie über einen griechischen Handelsposten am Musa Dagh als Muse nach Griechenland gelangt sein. Verschiedensten Orten, an denen die Muse einst verehrt wurde, nachzuwandern und zu fragen, woher sie kommt und wer „sie wirklich gewesen war“, ist nur eine der Ideen, die der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott seiner prosalyrischen Abhandlung „Inventur des Sommers“ zugrunde legt.

Denn sein neuer Band mit dem Untertitel „Über das Abwesende“ versammelt auch interessante poetisch-philosophische Zugänge zum Absenten. In einer Art Eröffnungswort schreibt er dazu: „Über Abwesendes begann ich unvermittelt eines Abends nachzudenken, an dem das Licht ein flach gewelltes Meer weiss aufglänzen liess, bevor es schliesslich abdunkelte und hinterrücks der Erdschatten aufstieg, Dämmerungsstrahlen nach sich ziehend, um mich zu fragen, was diese Phänomene eigentlich über die untergegangene Sonne verraten – und weiter: was sich in Zurückgelassenem, Hinterbliebenem, an Fortgegangenem, Verlorenem bewahrt.“ Schrott geht der Auswirkung einer früheren Ursache auf die Gegenwart und ihrem Auftreten in verwandelter Form in sogenannten Zwischenräumen nach. All dies müsse sich auch „auf den Verlauf des Lebens übertragen“ lassen. Sogar in Totenreden, Nachtflügen oder poetischen Wahrnehmungen spiegeln sich Ab- und Anwesendes wider.

Als Komparatist und Übersetzer zahlreicher antiker Schriften beschäftigt sich Schrott schon lange mit Mythologie, Etymologie und Sprachgeschichte. Seine Reisen führen ihn häufig zu archaischen Kultstätten und Schauplätzen alter literarischer Zeugnisse. Es sind unberührte Naturschätze ‒ einst Orte der Kommunikation mit Ahnen oder Gottheiten. Immer waren es Quellen an Felsen, korrespondierend mit der dunklen, unergründlichen Unterwelt, an denen man opferte oder mit göttlichen Wesen in Beziehung trat. Zwei Sommer lang besucht Schrott gemeinsam mit einer Fotografin heilige Plätze, hält Erkenntnisse, Eindrücke und poetische Assoziationen fest.

Dass das Abwesende, Vergangenes und Zukünftiges, weit in unser Leben hineinwirkt, zeigt er auch an mythischen Gestalten wie Helena ‒ im Verschwinden aus der Sicht des betrogenen Gatten: „die stille drinnen ein einziger vorwurf · auf dem bett / noch die konturen ihrer körper als falten im leintuch […] · reglos hockt er da und starrt / hält ein paar fäden in der hand ohne im webmuster / schon mehr zu erkennen als agonien eines verlustes […] · so an sie zu denken in der ferne im meer / während ihr schatten über das haus gebietet ist bitter / und wird nacktem hass weichen [...]“ Die Verbindung zwischen antiker und gegenwärtiger Welt wird nirgendwo sichtbarer als in der jahrtausendealten Wiederholung von Kriegen, Verbrechen und Massakern. Entsetzen und Grauen kulminieren hier in der Darstellung des Genozids an den Rohingya.

Schrott nimmt uns in ferne, fremde Welten mit. Diesen verschlungenen Wegen in die Vergangenheit mit Links zur Gegenwart zu folgen, ist anregend und sehr aufschlussreich. Das unüberblickbare Leben kann, wie Schrott schreibt, vielfältig mit Sinn aufgeladen werden. Am Ende eines langen Sommers lässt sich ein Fazit ziehen, vielleicht auch so: „sagen wir einfach mit den sonnentänzen geht es jetzt zu ende / mit dem widerstehen und aufbegehren · diesem starren ins licht und leere“

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