Nachbarn nach Plan

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Braucht etwas Alltägliches wie Nachbarschaft professionelle Anleitung? Ein Spaziergang durch Österreichs größtes Entwicklungsgebiet, die Seestadt Aspern.

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Braucht etwas Alltägliches wie Nachbarschaft professionelle Anleitung? Ein Spaziergang durch Österreichs größtes Entwicklungsgebiet, die Seestadt Aspern.

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Die U-Bahn lässt den Prater hinter sich, die neue Wirtschaftsuniversität, das Stadion. Sie überquert die Donau, fährt am Donauspital vorbei, an Glashäusern, Kleingärten und Feldern. Zum Schluss holt sie, als wollte sie ihre Endstation stolz präsentieren, zu einem großen Bogen aus, und die Ehrenkurve verfehlt ihre Wirkung nicht. Hier, mitten im Nichts, wächst die Seestadt Aspern aus dem Boden.

Im Herbst sind die ersten Bewohner eingezogen, mittlerweile leben 2000 Menschen hier. Bis 2028 werden es zehn Mal so viele sein. Einen Stadtteil aus dem Boden zu stampfen, der so groß ist wie Amstetten, ist eine Herausforderung auf vielen Ebenen. Wie werden die Menschen wohnen, wie arbeiten, wie werden sie sich bewegen, und wo werden sie einkaufen? Eine Expertengruppe befasst sich darüber hinaus mit einer anderen Frage: Wie werden die Menschen miteinander auskommen?

Wencke Hertzsch ist Stadt- und Regionalplanerin und Mitarbeiterin der Caritas. Sie leitet das Stadtteilmanagement der Seestadt Aspern, ein Projekt, das die Caritas gemeinsam mit drei Partnern im Auftrag der Stadt durchführt. "Community Building" heißt ihre Hauptaufgabe im Fachjargon. Wencke Hertzsch und ihre Kollegen sollen dafür sorgen, dass die Bewohner des neuen Stadtteils gute Nachbarn werden.

Kein breit gestreuter Wunsch

An einem kühlen Frühlingsnachmittag führt Hertzsch durch das neue Quartier, zeigt Wohnhäuser und Geschäftslokale, die darauf warten, bezogen zu werden. Diese Gebäude mit einem regen Sozialleben zu füllen, ihnen ein Miteinander einzuhauchen, dafür ist das Stadtteilmanagement zuständig. Im Infopoint, einem bunt besprühten Container, stehen die Gemeinschafts-Profis den Bewohnern zur Verfügung. "Momentan geht es noch nicht so viel ums Miteinander, sondern eher um praktische Fragen", erklärt Hertzsch. Die Menschen wollen wissen, wo sie parken und einkaufen können, wann der Kindergarten eröffnet und der Baulärm aufhört. Wird sich das ändern, wenn sich der neue Alltag erst einmal eingespielt hat?

In der Steiermark untersuchte im Vorjahr eine umfassende Studie, wie die Menschen ihre Nachbarschaft sehen. 90 Prozent der Steirer meinten, dass sie sich gut mit ihren Nachbarn verstehen. Allerdings gaben auch zwei Drittel der Befragten an, dass sie keinen oder nur wenig Kontakt zu ihren Nachbarn hätten. "Das Hauptproblem beim Community Building ist, dass es kein breit gestreuter Wunsch in der Bevölkerung ist", sagt Janosch Hartmann. Er leitet das Servicebüro "zusammen>wohnen<" des Landes Steiermark. "Grundsätzlich ist es kein Problem, in der Nachbarschaft anonym zu bleiben", sagt er, "aber wenn ich meinen Nachbarn gar nicht kenne, weiß ich nicht, wie ich ihn ansprechen soll, wenn es einmal zu einem Konflikt kommt." Das führt dazu, dass manche sich bei Ärger über Lärm oder ein Schuhregal vor der Wohnungstür lieber an die Hausverwaltung wenden, als beim Nachbarn anzuläuten.

Kaffee, Kuchen und Geschichten

Damit es in Aspern nicht so weit kommt, gibt es zum Beispiel das Erzählcafé. Dazu hat das Stadtteilmanagement heute Nachmittag in die "Fabrik" geladen, eine große Box aus Schalungsplatten, die je nach Anlass als Theaterbühne oder Partylocation genützt wird. Heute gibt es Kaffee und Kuchen. Drei Autoren sind eingeladen, sie werden aus ihren Texten lesen, die sie im Auftrag des Stadtteilmanagements über die Seestadt verfasst haben. Dann sollen die Besucher ihre Geschichten teilen. "Die Seestadt ist ein großer Möglichkeitsraum. Wir wollen darin Orte schaffen, in denen Menschen zusammenfinden, sich kennenlernen, austauschen.", erklärt Hertzsch.

Um fünf sollte das Erzählcafé beginnen, eine Viertel Stunde später sind die drei Autoren da, drei neugierige Journalisten, vier Mitarbeiter des Organisationsteams. Nur zwei der Gäste wohnen in Aspern. Brauchen die anderen vielleicht keine Anleitung zum Zusammenleben? "In jedem Wohnhaus, in dem es eine gute Nachbarschaft gibt, braucht es eine treibende Kraft, die die Initiative übernimmt, sich bei den anderen vorstellt oder ein Sommerfest organisiert. In Aspern sind wir das", meint Hertzsch. Sie sieht den gesellschaftlichen Nutzen von Stadtteilmanagement aber auch woanders: "Wenn jeder nur sich selbst organisiert, laufen wir Gefahr, in Einzelinteressen zu zerfallen."

Denn bei partizipativen Projekten sind es oft die selben Typen, die mitmachen: Hochqualifizierte, Gebildete, Männer. "Sie sind die lautstarken. Aber ihre Interessen liegen oft woanders als die von Gruppen, die sich nicht gut artikulieren können. Wenn es keine intermediäre Organisation gibt, hat der Lautere die Macht."

Lärm, Müll und die Nutzung des öffentlichen Raums sind die häufigsten Gründe dafür, dass Nachbarn miteinander streiten. So gab es auch in der Seestadt gleich zu Beginn Probleme mit dem Parken. Weil die Sammelgarage noch nicht zur Verfügung stand, parkten einige der ersten Bewohner auf den Gehsteigen. Um im schwelenden Konflikt zu besänftigen, organisierte das Stadtteilmanagement ein Forum. 70 Bewohner diskutierten ihre Anliegen - für Hertzsch ein Erfolg: "Da wurden alle Interessen sichtbar. Die der Autofahrer, aber auch die der Mütter mit Kinderwagen oder der alten Menschen."

Für Kinder, Mütter, und Alte ist die unmittelbare Nachbarschaft laut Hartmann am wichtigsten: "Wer nicht so mobil ist, ist auf die sozialen Beziehungen im unmittelbaren Umfeld angewiesen." Wer mobil ist, muss sich - gerade in Städten - seine sozialen Beziehungen nicht mehr nebenan suchen. Mit dem Grad der Verstädterung nimmt allerdings auch das professionelle Angebot zu, um dem entgegenzuwirken: "In Graz sagt man gerne: 'Stadtteilarbeit kommt aus dem Wiener Gemeindebau. Zum Glück haben wir hier nicht so große Probleme, dass wir das brauchen.' Das ist natürlich ein Wegschütteln von Problemen." Schwierigkeiten unter Nachbarn gibt es, so Hartmanns Beobachtung, nämlich überall: im sozialen Wohnbau wie im Eigentum, in großen wie in kleinen Städten.

Er erzählt von einem Fall in Trofaiach, einer 11.000-Einwohner-Stadt in der Obersteiermark. Dorthin wurde er zur Mediation gebeten, um gemeinsam mit dem Bürgermeister, dem Integrationsfonds und der Hausverwaltung in einem Konflikt zwischen österreichischen und tschetschenischen Familien zu vermitteln. Am Verhandlungstisch warf Hartmann ein, dass man sich nicht der Illusion hingeben solle, dass zwischenmenschliche Schwierigkeiten hier in der Kleinstadt anders gelagert seien als in Graz. Mehr brauchte es nicht, um die gegnerischen Parteien zu vereinen: "So schlimm wie dort ist es bei uns sicher nicht", waren sie sich einig - und begannen miteinander zu reden.

Lernprozesse werden zugelassen

Ins Reden kommen die Gäste im Erzählcafé in der Seestadt heute nur stockend. Um auch jene auf das Angebot aufmerksam zu machen, die sich nicht immer selbst informieren, haben Mitarbeiter des Stadtteilmanagements sogar im Seniorenheim dafür Werbung gemacht. Gekommen ist trotzdem kein Pensionist: "Nicht alles funktioniert von Anfang an, wie wir es uns wünschen. Lernprozesse werden zugelassen", sagt Hertzsch.

Dafür haben sich zwei weitere Bewohner dazu gesetzt, das Programm kann beginnen. "bald schon spalten die häuser licht in schatten" liest die Autorin Judith Nika Pfeifer aus ihrer Seestadt-Lyrik, es wird warm in der Holzbox. Dann werden die Seestadt-Bewohner eingeladen, ihre Geschichten zu teilen. Keiner meldet sich, deshalb noch ein Autorentext. Ist dieser Ort schon alt genug für Erinnerungen?

Nach dem nächsten Text haben die Bewohner ihre Schüchternheit abgelegt und beginnen zu erzählen: Vom lieb gewonnenen Holunderbusch, der immer noch am selben Ort steht, wie damals, als man zum allerersten Mal auf dem Brachland stand. Von Fernsehinterviews an eisig kalten Wintertagen. Von dem Morgen, als ein einziges "Guten Tag" eine Gruß-Welle unter den Bauarbeitern nach sich zog. Von einem Gewinnspiel, bei dem der Hauptpreis eine Fahrt mit dem Kran war.

Plötzlich wird klar, wie groß dieser Möglichkeitsraum ist, den die U-Bahn stolz präsentiert.

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