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Literarische Ursprünge des Marxismus

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DER MARXISMUS. Seine Geschichte in Dokumenten. Von Iring Fetscher. Band I. Philosophie und Ideologie. R. Piper und Co., Verlag, München. 492 Seiten. Preis 11.80 DM.

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DER MARXISMUS. Seine Geschichte in Dokumenten. Von Iring Fetscher. Band I. Philosophie und Ideologie. R. Piper und Co., Verlag, München. 492 Seiten. Preis 11.80 DM.

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Im sogenannten Osten wurde der Marxismus dogmatisiert. Diese Tatsache war Anlaß zur Vermutung, daß der Marxismus ein Katalog von eindeutigen und sich in einem System integrierenden Thesen sei, daß es d e n Marxismus gebe. Tatsächlich weist aber der Marxismus eine besondere historische Situation auf, ist an Situationen gebunden und stirbt mit ihnen, so wie er sich jeweils darbietet, ab, um sich an neuen Situationen und neuen Formeln zu aktivieren.

Das vorliegende Werk von Professor Fetscher, hervorragend eingeleitet, bietet eine repräsentative’ Auswahl aus jenen Dokumenten zur Philosophie und Ideologie des Marxismus, welche für dessen Aufwuchs kennzeichnend sind. Die Autoren, aus deren Werken eine Auswahl geboten wird, konnten, was Fetscher in seiner Einleitung hervorhebt, noch in Freiheit schreiben, waren also nicht an vorgegebene Sprachregelungen gebunden. Wie anders hätte etwa Marx seine Thesen formulieren müssen, wäre er gezwungen gewesen, in der Situation einer „marxistischen“ Diktatur leben zu müssen!

Dem Herausgeber geht es vor allem darum, die literarischen Ursprünge des Marxismus bloßzulegen. Diesem Vorhaben entsprechend wurde verfahren.

Die Religionskritik — das erste Kapitel — weist den Marxismus als perfekten Atheismus aus. Religion und religiöse Bezüge des Menschen werden als ein Mißverständnis disqualifiziert, als eine falsche Interpretation, als die irrtümliche Sitzung eines Göttlichen jenseits der Menschheit an Stelle der Vergöttlichung des Menschlichen. Im Ursprung war der Mensch das Schlachtopfer (Moses Hess). Darin erwies sich die äußerste Entartung der Fehlintcrpretation des Menschlichen durch den Menschen. Die dem Gottmenschen Jesus zugeschriebenen Züge sind nichts anderes als jene Züge, welche wohl dem einzelnen Menschen fehlen, nicht aber der Menschheit (Strauß). Die Gottesvorstellungen sind keine Erkenntnis der Wirklichkeit „Gott“, sondern nach Marx im Kopf des Menschen entstanden, als Folge einer Entfremdung des Menschen gegenüber seiner Gattung. Um die Religion zu überwinden, bedarf es nicht eines Umdenkens, sondern einer Änderung der sozialen und ökonomischen Bedingungen, da aus deren Fehlinterpretation das Religiöse als ein Abfallprodukt entsteht. Der Atheismus ist dem Instrumentarium der Sozialreform zuzurechnen, mittels dessen die Philosophie in die Tat umgesetzt werden kann. Einer Entgöttlichung der Welt verläuft gegengleich ein Prozeß der Sozialharmonisierung, ist doch das Religiöse eine verdeckte Form der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ohne daß der Ausgebeutete die Sachverhalte zu erkennen vermag. Insoweit ist Religion eine Art „geistiger Fusel".

Die Dokumente zur Anthropologie des Marxismus lassen erkennen, daß im Marxismus der Mensch vor allem in seiner gesellschaftlichen Verbundenheit gesehen wird. Die Menschlichkeit des Menschen kann sich nur in seiner Sozialanlage und in der Art ihrer Aktivierung erweisen. Oberstes Prinzip der Philosophie muß daher sein, von der Einigkeit des Menschen mit dem Menschen auszugehen und die Identität des Menschen mit sich selbst herzustellen. Diesem Zweck hat die Aufhebung des Rechtsinstitutes des Privateigentums zu dienen. Erst wenn das private Eigentum liquidiert ist, kann es zu einer wirklichen Aneignung des menschlichen Wesens mit und durch den Menschen kommen.

Die Unterlagen zur Geschichtsphilosophie stellen das Marxsche Geschichtsdenken als historischen Materialismus dar. Die geschichtlichen Prozesse werden von den sozialen und den ökonomischen Verhältnissen bestimmt. Die literarischen Zeugnisse zur marxistischen Weltanschauung (Dialektischer Materialismus) deklarieren Materie und Bewegung als unerschaffenbar und als unzerstörbar. Im Sowjetmarxismus wurde jedoch die Dialektik, im Ursprung eine besondere Form des kritischen Denkens (eine Denkmethode), zu einer Weltanschauung erhoben.

Die Erkenntnistheorie des

Marxismus sieht jede Erkenntnis sozial bedingt. Bis jetzt vermochten die Menschen nur aus ihrem Klassenstatus heraus zu denken, waren also befangen. Die Wirklichkeit konnte nicht erkannt werden. Fehlschlüsse waren die Folge. Ein außerhalb des menschlichen Bewußtseins bestehendes Sein wurde nicht erkannt. Es war dem Menschen in seiner elementaren Befangenheit nicht möglich, ein Abbild des Wirklichen zu gewinnen.

Die Ethik hat im Komplex des marxistischen Denkens keine eigenständige Position. Aufgabe des Menschen ist es, das Wirkliche zu erkennen. Wo Moral sich zeigt, ist sie Klassenmoral, interesse- befangen. Eine Moral an sich gibt es im orthodoxen Marxismus nicht. Anders die Neukantianer im Marxismus (etwa Max Adler), die das Sittliche als durchaus bedeutsam für den Marxismus und für seine Realisierung betonen: Wohl kann eine ökonomische Entwicklung die Bedingungen für einen neuen gesellschaftlichen Zustand erzeugen, sie vermag diesen selbst aber nicht zu konstituieren.

Die ausgezeichnete Dokumentensammlung kann zwar ein Befassen mit den Standardwerken des Marxismus nicht ersetzen, bietet aber doch eine so umfangreiche Sammlung literarischer Zeugnisse, daß es möglich ist, sich aus dem Dargebotenen ein Bild jenes Phänomens zu machen, das jetzt offenkundig in Adaptierung an die neuen sozialökonomischen Realitäten inhaltlich eine entscheidende Wandlung erfährt.

Das Fehlen eines Sachregisters erschwert die Benützbarkeit des Buches. Es ist zu hoffen, daß der zweite Band (Ökonomie und Politik) diesen Mangel nicht mehr aufweist.

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