"Zurückkommen zur kindlichen Offenheit"

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Wie wird man weise? Diese Frage untersucht derzeit Judith Glück, Entwicklungspsychologin an der Universität Klagenfurt in ihrem aktuellen Forschungsprojekt. Dieses ist auf drei Jahren anberaumt und wurde im vergangenen November begonnen. Ob man Weisheit lernen kann und wie Schulen von ihrer Forschung profitieren könnten, erklärt Glück im FURCHE-Interview.

Die Furche: Frau Professorin Glück, beobachtet man die Fachliteratur, gewinnt man den Eindruck, dass die Weisheitsforschung in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt hat. Warum eigentlich?

Judith Glück: Zunächst haben generell all jene Themen in der psychologischen Forschung an Bedeutung gewonnen, die mit dem Altern zu tun haben, ähnlich ist es in der medizinischen Forschung - bedingt durch die Bevölkerungsentwicklung. Und die Eigenschaft Weisheit ist etwas typisch hoch Positives, das mit dem Alter assoziiert wird. Es gibt Studien, die zeigen, dass die meisten mit Altern in erster Linie Negatives assoziieren; Weisheit ist da eine wichtige Ausnahme. Ein weiterer Grund, dass sich die Forschung etabliert hat, ist auf den Psychologen und Gerontologen Paul B. Baltes (1939 bis 2006) zurückzuführen, der die Weisheitsforschung am Max-Planck-Institut in Berlin intensiv betrieben hat. Er war über längere Zeit der Einzige, der empirisch über Weisheit geforscht hat. Es ist eben nach wie vor schwierig, sich diesem Konstrukt Weisheit mit unseren psychologischen Methoden zu nähern. Wir sind uns noch nicht einmal über die Definition einig.

Die Furche: Wie würden Sie Weisheit erklären? Haben Sie für sich eine brauchbare Definition gefunden?

Glück: Weisheit ist eine Mischung aus Persönlichkeitseigenschaften und einer starken kognitiven Komponente. Es umfasst drei große Bereiche: Erstens eine affektive Komponente, bei der es um Liebe und Mitgefühl mit anderen Menschen geht. Zweitens eine starke Neigung zur Reflexion. Weise Menschen denken einfach gern und viel nach, hinterfragen alles, auch sich selber. Drittens die kognitive Komponente, die mit Wissen-Wollen und Verstehen-Wollen zu tun hat und zudem mit der Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu verstehen.

Die Furche: Inwieweit kann man Weisheit lernen?

Glück: Gewisse Teile von Weisheit kann man lernen. Einige sind wohl eher angeboren. Es gehört zur Weisheit, eine gewisse Offenheit für neue Erfahrungen zu besitzen. Dazu braucht man ein gewisses Maß an Nicht-Ängstlichkeit. Ängstlichkeit ist bis zu einem gewissen Grad angeboren, natürlich auch gelernt, aber es gibt Grundtemperamente.

Die Furche: Wie genau kann man Komponenten von Weisheit lernen?

Glück: Man kann zum Beispiel von klein auf dazu erzogen werden, unterschiedliche Perspektiven spannend zu finden. Ich kann ein Kind autoritär behandeln und ihm sagen, was richtig und was falsch ist. Ich kann aber auch versuchen, das Kind zu einem Diskurs zu erziehen, Regeln zu erklären und zu diskutieren, und dann wird das Kind lernen zu hinterfragen und kritisch zu denken. Dann kann man natürlich auch Offenheit bis zu einem gewissen Grad lernen, indem man unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt wird und erlebt, dass das bereichernd ist. Und natürlich lernen wir alle aus Lebenserfahrungen, speziell durch schwierige Ereignisse in unserem Leben. Interessant ist, dass sich manche Menschen in Richtung Weisheit entwickeln, andere aber in die Gegenrichtung - in Richtung verbittert und verhärmt.

Die Furche: Ist die Eigenschaft Weisheit eigentlich für Sie an ein bestimmtes Alter gebunden - oder anders gefragt: Können auch Kinder weise sein?

Glück: Nein, sie ist nicht an ein bestimmtes Alter gebunden, hat aber mit Lebenserfahrung zu tun. Alter ist insofern eine nützliche Voraussetzung, als man durch höheres Alter meistens mehr erlebt hat und einen das Alter in eine Perspektive versetzt, von der aus man Erfahrungen anders betrachtet. Auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, die im Alter naturgemäß mehr zum Thema wird, ist hilfreich, um Weisheit zu entwickeln. Bei Kindern gibt es Facetten, die so ausschauen wie Weisheit, die aber einen anderen Hintergrund haben. Ich habe einen sechsjährigen Sohn. Bei ihm erlebe ich oft, dass er so unglaublich kluge Dinge sagt, aus einer ganz naiven offenen Betrachtungsweise heraus. Er denkt über etwas zum ersten Mal nach und schaut auf eine Sache nicht wie wir, durch sieben "Brillen", die man bereits aufhat, und kommt so zu Fragen, auf die ich gar nicht mehr kommen würde, die mich aber nachdenklich stimmen. Er tut das aber aus Unwissenheit heraus und daher würde ich es nicht als Weisheit bezeichnen. Aber zu dieser Offenheit zurückzukommen, indem man gezielt die "Brillen" abnimmt und sagt, ich schaue mir das jetzt von anderen Seiten an: Das ginge in Richtung Weisheit.

Die Furche: Das könnten auch Schulen vermitteln …

Glück: Dazu gibt es sogar schon ein konkretes Thesenpapier des US-Psychologen Robert Sternberg, der betont, dass dieses Lernen eine ganz wichtige Aufgabe für Schulen wäre: Das Diskutieren von Meinungen, das Hinterfragen der eigenen Wertehaltung. Das wird ja auch schon teilweise an Schulen versucht.

Die Furche: Sie sind nun für Ihre Forschung auf der Suche nach weisen Menschen. Wie gehen Sie da vor?

Glück: Wir suchen zunächst Menschen, die jemanden kennen, den sie für wirklich weise halten. Wir setzen einen relativ hohen Maßstab an. Auf erste Medienberichte haben sich schon einige Leute gemeldet. Es klingt wunderbar, was mir die Leute erzählen. Es scheint wirklich weise Menschen zu geben. Diese werden wir dann kontaktieren, hoffentlich sind sie bereit, an unserer Studie teilzunehmen.

Die Furche: Sich selbst melden, geht aber nicht …

Glück: Nein. Wir gehen davon aus, dass ein weiser Mensch im Allgemeinen zu selbstkritisch ist, um zu sagen: Ich bin weise.

Die Furche: Was genau werden Sie beforschen?

Glück: Uns interessieren zwei Fragen: Wie gehen weise Menschen anders mit kritischen Lebenserfahrungen um als andere? Wie hat sich also Weisheit entwickelt, welche Art von Lernen war im Gange? Wir werden dazu qualitative Interviews durchführen. Das zweite große Ziel ist der Versuch, eine Methode der Messung von Weisheit zu entwickeln.

Die Furche: Was sind Ihre Forschungshypothesen? Was vermuten Sie, dass weise Menschen können, was andere nicht können?

Glück: Wir gehen unter anderem davon aus, dass weise Menschen generell offener für Neues sind und auch negative Lebenserfahrungen stärker als Lernmöglichkeiten wahrnehmen, auch weil sie über ihre Erfahrungen viel und auch selbstkritisch reflektieren.

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