Mädchensein als tödlicher Makel

Werbung
Werbung
Werbung

Über 160 Millionen Frauen sind in Asien durch vorgeburtliche Geschlechtsselektion "verschwunden“. Doch auch im Kaukasus und am Balkan werden Mädchen gezielt abgetrieben. Droht immer mehr Ländern die "Vermännlichung“? Ein Szenario zum Frauentag.

Es war 1991, als Christophe Guilmoto eine erste Ahnung beschlich, dass etwas im Argen lag. Der französische Demograf wollte erforschen, was die Geburtenrate eines Landes absinken lässt, und begab sich deshalb im südwestindischen Bundesstaat Tamil Nadu in ein Waisenhaus. Die Pflegeschwestern erzählten ihm Erschütterndes: Dorfbewohner würden gelegentlich neugeborene Töchter töten, und die meisten der ausgesetzten Kinder seien Mädchen. Guilmoto war bestürzt. Erst um die Jahrtausendwende, beim Studium der neuesten Geburtenziffern am Institut für Entwicklung an der Universität Paris-Descartes, bemerkte er, dass in ganz Indien auf 100 Mädchen mittlerweile 111 Buben kamen. Kindstötungen oder Aussetzungen allein konnten dieses Missverhältnis - das natürliche Geschlechterverhältnis beträgt 100 zu 105 - nicht mehr erklären. Die Mädchen mussten also schon vor der Geburt "verschwunden“ sein, abgetrieben nach einer Geschlechtsbestimmung, wie sie im Rahmen einer überall verfügbaren Ultraschalluntersuchung im zweiten Schwangerschaftsdrittel möglich ist.

Selektive Abtreibung als "Segen“

163 Millionen Frauen seien dieser Kombination von Ultraschall und Spätabtreibung allein in Asien in den vergangenen Jahrzehnten zum Opfer gefallen, rechnete Guilmoto vor. Gab es in Indien unter der Regierung Indira Gandhi noch Zwangssterilisierungen, so ist es heute Sache der Frauen, ihre Fruchtbarkeit unter Kontrolle zu bringen. "Und in einer Welt, in der Frauen unter dem doppelten Druck stehen, einerseits möglichst wenige Kinder in die Welt zu setzen, andererseits einen Sohn zu liefern, kann geschlechtsselektive Abtreibung schon als ein unverhoffter Segen anmuten“, schreibt die US-Journalistin Mara Hvistendahl in ihrem 2011 auf Englisch und vor kurzem auf Deutsch erschienenen Buch "Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen.“ Seit 1996 dürfen indische Pränatalmediziner das Geschlecht des Fötus nicht mehr verraten. Doch viele tun es trotzdem, die wenigsten werden dafür bestraft.

In China mit seiner 1980 eingeführten - und vom Westen eifrig beklatschten - Ein-Kind-Politik ist es ohnehin längst zu einer dramatischen Schieflage gekommen: In manchen Orten beträgt das Geschlechterverhältnis bereits 100 zu 200 - auf ein geborenes Mädchen kommen dort zwei Buben.

Anders als bisher angenommen, nimmt vorgeburtliche Geschlechtsselektion mit wachsendem Wohlstand und steigender Bildung nicht ab, hat Mara Hvistendahl herausgefunden. Einen Sohn zu haben, sei eben "eine Schicksalsfrage“, erzählt ihr ein chinesischer Mittelklasse-Vater. Was nutze der eigene, materielle Wohlstand, wenn man keinen Sohn habe, dem man ihn vererben könne? Seine Frau formuliert es drastischer: "Wenn du keinen Sohn hast, verlierst du dein Gesicht.“ Die Folgen dieser "Maskulinisierung“ sind dramatisch: Millionen junge Männer werden auf dem Heiratsmarkt leer ausgehen, (Zwangs-)Prostitution und Frauenhandel zunehmen.

Ein Szenario, das auch dem Kaukasus und dem Balkan blühen könnte: In Albanien etwa, geprägt von einem archaischen Familienverständnis, waren Abtreibungen während des Kommunismus verboten, vorgeburtliche Untersuchungen unbekannt. Heute kommen auf 100 geborene Mädchen bereits 112 Buben. Man weiß um illegale Spätabtreibungen.

Spätestens hier ist die Europäische Union gefordert: Schließlich ist Albanien potenzieller Beitrittskandidat, Mazedonien ist es offiziell, Montenegro verhandelt bereits. "Abtreibungsregeln gehören nicht zu den EU-Kompetenzen“, erklärt Ulrike Lunacek, Grüne Abgeordnete zum EU-Parlament mit den Schwerpunkten Frauenrechte sowie Balkan, "aber von uns wird dieses Thema trotzdem angesprochen - wie auch die generelle Situation von Frauen und Mädchen in diesen Ländern.“ Dass es schon "gute, neue Gesetze“ gebe, sei ein Erfolg der Beitrittsprozesse, aber an der Umsetzung hapere es, so Lunacek. "Es braucht Bewusstseinsarbeit, dass Mädchen wertvolle Mitglieder der Gesellschaft werden und nicht nur Kosten verursachende Frauen, die dann wegheiraten.“

In Südkorea hat dieses Umdenken schon gefruchtet: Dank Medienkampagnen und Antidiskriminierungs-Gesetzen konnte dort das Geschlechterverhältnis von 100 zu 115 auf 100 zu 107 korrigiert werden. Ob dies auch in China und Indien gelingt - oder in Albanien, wo der UN-Bevölkerungsfonds demnächst eine Kampagne startet (s.u.) - bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass die Folgen der jahrelangen Jagd auf weibliche Föten noch lange zu spüren sind.

Das Verschwinden der Frauen

Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen

Von Mara Hvistendahl, dtv 2013 (dt. Erstausgabe, aus dem Englischen von Kurt Neff).

420 Seiten, geb., € 25,60

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung