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Modellfall Bonn?

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In der Bundesrepublik Deutschland konnte die Regierung der Großen Koalition vor kurzem ihren ersten Jahrestag begehen. Ein Jahr liegt hinter der Regierung Kiesinger, Ob die Große Koalition die Bundestagswahlen 1969 überstehen wird, hängt vor allem davon ab, wer sich in der Wahlrechtsfrage durchsetzt: Die Kräfte, die auf eine möglichsl rasche Verabschiedung der Wahlrechtsreform dringen, oder diejenigen, die in dieser Frage zum Bremsen neigen. Die Fronten gehen hiei quer durch die Parteien. Der zuständige Ressortminister, Innenminister Paul Lücke, ist jedenfalls entschieden für die Mehrheitswahl und ebenso dürfte die Mehrzahl dei Professoren eingestellt sein, die einen Entwurf eines neuen Wahlsystems ausarbeiten sollen.

Die Große Koalition war ein österreichisches Exportgut. Was es bedeutet, sich bei einer Lösung besonders dringlicher und schwieriger Probleme auf eine stabile Basis stützen zu können, konnte die Bundesrepublik am Beispiel Österreichs studieren. Was es heißt, durch eine Reform des Wahlsystems den Übergang zum Zweiparteiensystem zu vollziehen, könnte Österreich am Beispiel der Bundesrepublik sehen.

In keiner anderen Demokratie Kontinentaleuropas ist das Parteiensystem einem Zweiparteiensystem so nahe wie in Österreich. Was uns von einem solchen Zweiparteiensystem noch trennt, ist die Tatsache, daß die absolute Mehrheit einer Partei nach den bisherigen Erfahrungen nur ein Ausnahme- und nicht ein Regelfall ist. Das entscheidende Merkmal eines Zweiparteiensystems ist aber, daß von den beiden dominierenden Parteien die eine immer im Besitz einer regierungsfähigen Mehrheit ist, während die andere reelle Chancen auf den Gewinn der Mehrheit hat. Welche Mißverständnisse, welche Oberflächlichkeiten, welche Vereinfachungen der Ausdruck „Zweiparteiensystem“ auch bei Politikern an die Oberfläche treibt, davon konnten sich die Österreicher bei den letzten „Stadtgesprächen“ am 14. November überzeugen. „Ist Österreich auf dem Weg zu einem Zweiparteiensystem?“ hieß das Thema. Die Abgeordneten Glaser (ÖVP), Probst (SPÖ) unü Zeillinger (FPÖ) diskutierten und kamen zu dem Ergebnis, sie alle würden ein Zweiparteiensystem nicht befürworten. Das ist ein Werturteil. Daß aber Probst unwidersprochen seinen Standpunkt dahingehend präzisieren konnte, ein Mehrparteiensystem wäre deshalb ein Ausfluß der Bundesverfassung, weil das geltende Wahlrecht auch die Kandidatur klei-

nerer Parteien zuließe, hat mit einem Werturteil nichts mihr zu tun. Das ist eine Begriffsverwirrung. Denn das Recht auf Kandidatur auch kleinerer und kleinster Parteien steht selbstverständlich außerhalb der Diskussion.

Niemand würde es sich in Großbritannien einfallen lassen, die Kandidatur der Liberalen oder der Kommunisten, der wallisischen oder der schottischen Nati nalisten zu untersagen. Selbstverständlich dürfen alle diese Parteien sich um die Wähisr-stimmen bemühen, und ab und 71 werden sogar Kandidaten dieser Parteien gewählt. Und dennoch gibt es in Großbritannien ein Zweiparteiensystem. Nur die im Fernsehen auftretenden Abgeordneten dürften diese Tatsache nicht richtig begriffen haben.

Sollte die Diskussion um eine Wahlrechtsreform in naher oder ferner Zukunft auch in Österreich wieder lebhafter werden, wäre zu bedenken, daß eine Einführung des einfachen, relativen (britischen) Mehrheitswahlsystems ein Zweiparteiensystem etablieren würde, ohne die kleineren Parteien in irgendeiner Form zu behindern; daß ein Zweiparteiensystem eine Einparteienregierung zum Normalfall machen würde; daß es jedoch den beiden Großparteien überlassen bliebe, nötigenfalls trotz absoluter Mehrheit einer Partei eine Koalition zu bilden; daß ein Zweiparteiensystem die Frage einer Koalition als eine Art von Konzentrationsregierung durchaus offen läßt.

Es wäre im Jahre 1970 keine günstige Ausgangsposition für eine erneuerte Große Koalition, wenn der eigentliche Grund und die letzte Rechtfertigung der Koalition das Fehlen klarer Mehrheiten wäre. Koalitionen pflegen dann zu funktionieren, wenn ihnen klar umris-sene, dringliche Autgaben gestellt sind. Koalitionen pflegen dann nicht zu funktionieren, wenn solche gemeinsam zu lösende Aufgaben fehlen und die Koalitionspartner nur durch den Mangel an einer brauchbaren Alternative zusammengehalten werden. Das Jahr 1970, das Jahr, in dem die Legislaturperiode zu Ende geht, ist der Fixpunkt, an dem sich jeder politische Gedanke orientieren muß, der mehr als eine kurzfristige Perspektive haben will. Bis 1970 sind die Mehrheitsverhältnisse klar. Aber dann? Sollten die Schlüssel für Österreichs Zukunft dann vielleicht wirklich in den Händen der Partei liegen, die sich zwar manchmal liberal etikettiert, in deren Reihen aber Liberale vom Format eines Theodor Heuß oder eines Thomas Dehler undenkbar wären? Soll die Partei die entscheidende Position innehaben, die im Gegensatz zur FDP keine echten liberalen Traditionen vertritt?

Die österreichische Demokratie ist eine Demokratie mit zahllosen spezifisch österreichischen Eigenheiten. Aber sie ist keine Demokratie sui generis. Was in anderen Demokratien an demokratischen Modellen entwickelt wird, das kann selbstverständlich niemals unkritisch und ohne Adaptierumg an die österreichischen Verhältnisse in Österreich seine Anwendung finden. Abel demokratisches Modelldenken anderer Nationen kann uns wesentlich Ideen und Impulse eröffnen. In diesem Sinn könnte Bonn eir , Modellfall sein.

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