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Vom Tod in Venedig — zu Venedigs Tod
Italien ist seit 15 Monaten auf dem Papier ein Föderalstaat, zwischen den 22 Ministerien in Rom und den 20.000 Kommunalbehörden haben sich Regionalverwaltungen eingeschoben, die den besonderen Verhältnissen in den unterschiedlichen Regionen der Apenninenhalbinsel Rechnung tragen sollen. Sieht man heute auf das Ergebnis dieser politischen Strukturveränderung durch den Urnengang vom 7. Juni 1970, so hat man eher Grund, enttäuscht zu sein: Die Verlegung der Zuständigkeiten vom Zentralstaat zu den 15 Regionen fand größtenteils noch gar nicht statt oder endete im Niemandsland des positiven oder negativen Kompetenzkonflikts. Gelegentlich weiß niemand, wer für irgend etwas zuständig und damit verantwortlich ist.
Italien ist seit 15 Monaten auf dem Papier ein Föderalstaat, zwischen den 22 Ministerien in Rom und den 20.000 Kommunalbehörden haben sich Regionalverwaltungen eingeschoben, die den besonderen Verhältnissen in den unterschiedlichen Regionen der Apenninenhalbinsel Rechnung tragen sollen. Sieht man heute auf das Ergebnis dieser politischen Strukturveränderung durch den Urnengang vom 7. Juni 1970, so hat man eher Grund, enttäuscht zu sein: Die Verlegung der Zuständigkeiten vom Zentralstaat zu den 15 Regionen fand größtenteils noch gar nicht statt oder endete im Niemandsland des positiven oder negativen Kompetenzkonflikts. Gelegentlich weiß niemand, wer für irgend etwas zuständig und damit verantwortlich ist.
In Kalabrien, den Abruzzen und dem Veneto kam es nach dem 7. Juni zu Mißstimmigkeiten aller Art und halben Bürgerkriegen, weil zum Zeitpunkt, da die Regionalwahlen durchgeführt wurden, sich kaum jemand Gedanken machte, ob die Bevölkerung dieser Regionen mit Roms Dekretierung der Regionalhauptstädte einverstanden sei. Vielfach waren solche und andere einsame Römerbeschlüsse einfach die willkommenen Vorwände für allerlei Protestkundgebungen, Extremistische Gruppen ließen sich freilich nicht lange bitten, politisches Kapital aus den dahinter stehenden uralten Frustrationen zu schlagen.
Hielt sich Rom in Sachen Reggio Calabria bereits über den Berg, so hat der inzwischen aufgeflammte Kleinkrieg all die Befürworter machiavellistischer Schachzüge und ökonomischer Kompromisse eines besseren belehrt. Die Verlegung des Regionalparlaments von Catanzaro nach Reggio, diese Halblösung des Städtekrieges um die Ehre, Kapitale einer Region zu sein, und das Versprechen der Errichtung eines riesigen Stahlwerkes haben die Bewohner dieser Stadt am äußersten Ende der Apenninenhalbinsel offensichtlich nicht zufriedengestellt. Vor Jahresfrist genügte der Tod eines Jugendlichen, um zwei Stadtviertel in Aufruhr zu versetzen. Wer Carmelo Jacones getötet hat, ist keineswegs erwiesen, und die Autopsie der Quästur schließt es kategorisch aus, daß ein Polizist den tödlichen Schuß abgegeben hat. In ihrem Haß gegen alle Obrigkeit gibt sich die Bevölkerung mit diesem Befund nicht zufrieden. Die Hinterbliebenen, Familienangehörige, verlangen eine Kontrolle der Autopsie durch einen Außenstehenden und wiesen das Beileidstelegramm des Präsidenten der Regionalverwaltung Antonio Gua- rasci mit dem Hinweis zurück, es handle sich bei diesem Dokument um eine bloße bürokratische Formalität.
Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß die Bildung eigener Verwaltungen vielen norditalienischen Regionen zum Vorteil gereicht. Für Venedig kann dies allerdings kaum behauptet werden. Hier kann der Regionalismus nicht weniger als dem Überleben einer ganzen Stadt zum Verhängnis gereichen.
Mit dem Slogan „Venedig gehört der Welt, die Welt muß Venedig retten!“ wandte sich der Bürgermeister der Lagunenstadt 1967 an das Weltgewissen. Die UNESCO stellte 250 Milliarden Lire zur Verfügung, damit diese vom Meer und von schädlichen Industrieeinflüssen bedrohte Stadt der Nachwelt erhalten werden könne. Merkwürdigerweise ist niemand- bereit, diese gewichtige
Summe entgegenzunehmen. Nachdem bei der Behebung der Unwetterschäden in Florenz offenbar nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, stellte die UNESCO bei Venedig die Einsetzung einer Kontrollinstanz zur Bedingung der Überweisung. Nur Venedig, nicht das Budget dieser Stadt oder eines seiner einflußreichen Bürger sollte gerettet werden. Da sie nicht mehr nach Gutdünken mit den 250 Milliarden schalten und walten konnten, schienen auf einmal die Staats-, Regional- und Kommunalbeamten alles Interesse an diesem Geld verloren zu haben. Sie, die jahrelang mit hohlen Händen über die Erde pilgerten, um Venedig mit viel Geld zu retten, gehen offensichtlich lieber unter, als sich der Kontrolle des UNESCO-Revisors zu unterziehen. Dies ungeachtet der Tatsache, daß es nachgerade die Spatzen von den Dächern pfeifen, daß Venedig ohne baldige wirksame Unterstützung dem Untergang geweiht ist. In Anlehnung an Thomas Manns Roman und dessen Verfilmung durch Visconti ist man unter solchen Vorzeichen versucht, gleichsam von der Zukunft her die Geschichte dieser Stadt mit den Worten zu überschreiben: Vom „Tod in Venedig“ zu Venedigs Tod.
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