Kärnten liegt am Meer

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Der Geschichte und den psychosozialen Hintergründen des Konflikts zwischen den Kärntner Volksgruppen spürt ein neues Buch mit der Perspektive auf Dialog und Versöhnung nach.

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Der Geschichte und den psychosozialen Hintergründen des Konflikts zwischen den Kärntner Volksgruppen spürt ein neues Buch mit der Perspektive auf Dialog und Versöhnung nach.

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Die Geschichte der "killing fields" im Grenzbereich zwischen Österreich, Italien und Slowenien ist noch lange nicht aufgearbeitet. In Kärnten bestimmen bis heute traumatische Konfliktgeschichten die politischen und familiären Verhältnisse. Auch wenn der Kärntner Ortstafelkonflikt nun seit Juli 2011 durch ein Verfassungsgesetz geregelt ist, besteht kein Grund, sich erleichtert zurückzulehnen. Denn der Konflikt um die Ortstafeln ist nur der Ausdruck viel tiefer liegender Konflikte, schreibt Wolfgang Petritsch, Botschafter Österreichs bei der OECD. Das lehrte Petritsch die eigene Familiengeschichte: Der slowenischsprachige Großvater wurde nach dem Ersten Weltkrieg als Opfer einer Denunziation in den neuen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen verschleppt und eingesperrt; der Vater - Slowenisch sprechend - musste als deutscher Soldat in dasselbe Gebiet einmarschieren und überlebte den Partisanenkrieg nicht zuletzt wegen seiner Slowenischkenntnisse. Traumatische Geschichten können sehr viele Menschen im Kärntner Grenzgebiet erzählen. Und für viele ist es erst jetzt, mehr als sechzig Jahre nach 1945, möglich, dem Schrecken, aber auch dem Hass ins Gesicht zu sehen - weil "damals" Eltern von Soldaten oder Partisanen verschleppt wurden und nie wieder kamen, die Familie vom Hof vertrieben wurde, Tanten und Onkeln ins KZ oder Kinder ins Arbeitslager kamen.

Vision einer transnationalen Friedenskultur

Zwanzig solcher Familiengeschichten werden in dem von Petritsch und den beiden Friedensforschern Wilfried Graf und Gudrun Kramer herausgegebenen Band "Kärnten liegt am Meer" dokumentiert, zusammen mit Aufsätzen zur Geschichte und den psychosozialen Hintergründen des Konflikts rund um die Kärntner Ortstafeln. Zugleich aber wird auch "die Vision einer interkulturellen, transnationalen Friedenskultur in der Alpen-Adria-Region" (W. Graf) skizziert. Und das ist kein Widerspruch.

Das Buch ist eine soziale Intervention: Es geht weder um "oral history" noch um die Auflösung der "zu vielen Mythen" (Petritsch) oder um eine Wahrheitssuche in Sachen Slowenen-Konflikt, "wie es wirklich war". Dokumentiert wird ein Dialog-Prozess, der heftig und langwierig war und noch längst nicht abgeschlossen ist. Vor fünf Jahren, im Mai 2007, begannen Wilfried Graf und Gudrun Kramer ein Gespräch mit zwei der wichtigsten Protagonisten des Kärntner Konflikts, mit Marjan Sturm, Obmann des Zentralverbandes slowenischer Organisationen, und mit Josef Feldner, Obmann des Kärntner Heimatdienstes. Der Dialogprozess wurde vielfach begrüßt - aber die Teilnehmer wurden auch sehr scharf attackiert, etwa als Verräter. Die Dokumentation erschien im Herbst 2007 unter dem Titel "Kärnten neu denken". Jörg Haider, damals Landeshauptmann, reagierte mit "man müsse Kärnten mehr lieben" auf die Publikation. Rückblickend waren diese Gespräche zwischen Feldner und Sturm eine wichtige Voraussetzung für die Einigung im Ortstafelkonflikt vier Jahre später.

Landkarte der Widersprüche

Diese Regelung des Konflikts war, so hoffen die Herausgeber, der erste Schritt - dem die Transformierung des Konflikts folgen könnte. Zwar ist das Milieu der individuellen und familiären Traumata Kärntens ein "Vergangenheitskeller", in den Menschen "von der Politik [] gesperrt worden sind, wo sie von ihren eigenen Erinnerungen attackiert und vergiftet werden", so Maja Haderlap in ihrem Roman "Engel des Vergessens". Auf der anderen Seite aber stellen die kollektiven Traumata aus dem "Vergangenheitskeller" auch starke und ambivalente Ressourcen dar - "entweder für die Legitimation erneuter Gewalt oder aber für Konflikttransformation und Versöhnung" (W. Graf).

Die Gespräche und Lebensgeschichten, die in dem Band "Kärnten liegt am Meer" gesammelt sind, zeigen den Hass und die Angst, die mit dem Kärnten-Konflikt verbunden sind, mehr als deutlich. Da kommen Ex-Partisanen zu Wort genauso wie Deutsch-Nationale - z. B. der verstorbene Otto Scrinzi. Der Prozess, in dem das Buch entstand, war selbst von Konflikten gezeichnet. Die Gespräche, die 2009 begannen, wurden von den Teilnehmern selbst redigiert; doch zogen sich zwei slowenischsprachige Gesprächspartner zurück, da sie den Dialog mit bestimmten deutschsprachigen Personen ablehnten, bei denen sie zu große Nähe zum Nationalsozialismus sahen. Die deutschsprachigen Teilnehmer wiederum standen solchen "Unversöhnlichkeiten" verständnislos gegenüber. Das Ergebnis der Gespräche ist eine Landkarte der Widersprüche und stillschweigenden Annahmen, die bis jetzt einen tieferen Dialog-Prozess in Kärnten verhindert haben. Doch nur wenn auch der Hass seinen Platz bekommt, kann es Versöhnung geben, zitiert Graf den Berliner Sozialpsychologen und Trauma-Therapeuten David Becker.

Außergewöhnlich ist das Buch nicht nur wegen der lebendigen Einblicke in die Emotionen, die die jüngere und jüngste Geschichte Kärntens prägen. Außergewöhnlich ist auch der historische Rahmen, den das Vorwort skizziert. Der Kärnten-Konflikt ist - folgt man dem italienischen Historiker Enzo Traverso - kein lokaler Konflikt, sondern Teil des "europäischen Bürgerkriegs zwischen 1914 und 1945". Unter dieser europäischen Perspektive wird vor allem die Situation der Zivilisten klarer, die im Grenzgebiet zwischen Solidarität und Angst, zwischen Partisanen und regulären Truppen hin- und hergerissen waren. Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern sind nicht immer eindeutig, auch das wird in den Interviews deutlich; manchmal wurden aus Tätern Opfer und umgekehrt.

Transformation von Konflikten

Für diesen tiefgehenden Dialog-Prozess haben Graf und Kramer eine starke theoretische Basis. Die über Jahre von ihnen entwickelte Methode der "interaktiven Konflikttransformation" nützt Ansätze von Johan Galtung, dem Begründer der Friedensforschung, das "Komplexitätsdenken" des französischen Philosophen Edgar Morin und Methoden der sozialpsychologischen Konfliktbearbeitung von Herbert C. Kelman. "Widersprüche und Differenzen müssen respektiert und ausgehalten, Emotionen müssen in einem geschützten Rahmen ein Stück weit ausgedrückt und dann transformiert werden", schreibt Graf.

Auch dies macht das Buch außergewöhnlich: Es gibt Analyse und auch Polemik, doch es wird ein Weg des Dialogs und der Versöhnung beschritten. Eine Politik, die auf zivile Konfliktbearbeitung und die Perspektive der Versöhnung setzt, würde in Österreich vieles kreativ bewegen. Denn Versöhnung setzt die Transformation von Konflikten "auf der Ebene sozialer Strukturen, kultureller Identitäten und kollektiver Emotionen" voraus. In der Praxis hieße dies etwa: Mehrsprachigkeit und innovative Regionalpolitik. In einer transnationalen "Friedensregion Alpe-Adria" würde etwa Kärnten am Meer liegen, schreibt der Friedenspädagoge Werner Wintersteiner, von dem auch der Buchtitel stammt. "Das bedeutet umgekehrt: Ljubljana liegt am Wörthersee oder Udine liegt an der Drava/Drau." Es ist ein nobler europäischer Lernprozess, der hier eingeleitet wird.

Kärnten liegt am Meer Konfliktgeschichte/n über Trauma, Macht und Identität W. Petritsch, W. Graf, G. Kramer (Hg.) Drava/Heyn 2012, brosch., € 29,80

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