Was der Schleier verhüllt und was er zeigt

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Von Ferne sieht die Frau aus wie meine freundliche Lehrerin aus der Klosterschule von damals - das bodenlange schwarze Gewand, die streng unter einer weißen Haube verborgenen Haare, der schwarze Schleier, der sich darüber legt. Sie ist jung und ihre Sprache ist äußerst bodenständig, "vom Grund", wie man früher sagte, sie ist demnach in Wien geboren und aufgewachsen. Vielleicht ist sie als Muslima geboren, vielleicht ist sie konvertiert, mit ihrer Kleidung jedenfalls macht sie ein starkes Statement zu ihrer Identität. Vor wenigen Jahrzehnten hätte man sie wegen ihrer Kleidung für eine Ordensfrau gehalten; heute scheint sofort klar: eine Muslima.

Kleider machen Leute, aber welche Kleider welche Leute machen, hängt von der Epoche ab. In der Velazquez-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien, die vor kurzem zu Ende ging, hing ein lebensgroßes Gemälde, das die Habsburgerin Maria Anna, Königin von Spanien, als Witwe zeigt: schwarzes Gewand, weiße Haube, die die Haare zurückhält, ein schwarzer Schleier. Das war die angemessene Kleidung einer Witwe ihres Ranges und ihrer Klasse.

Eine Frage der Macht

Folgt man der Geschichte der Verschleierung, entdeckt man rasch, dass es auch eine religiöse, aber immer eine soziale, gesellschaftspolitische Frage ist, wer sich wie verschleiert oder verschleiern muss. Der Schleier ist ambivalent und vieldeutig. Manchmal geht es um Sexualität: Ein Schleier verhüllt die Augen der Geliebten im "Hohen Lied" der hebräischen Bibel, aber ein Schleier wird in der Bibel auch als Zeichen einer Prostituierten genannt. Vor dreitausend Jahren in Assyrien markierte der Schleier vor allem soziale Grenzen. Nur Frauen der Oberschicht trugen einen Schleier, weil sie vor den Blicken der Unterschicht geschützt sein sollten. Sklavinnen war das Tragen eines Schleiers bei Strafe verboten. Auch das Hofzeremoniell der Sassaniden, die den Iran in der Spätantike beherrschten, sah vor, dass hochstehende Frauen Schleier tragen mussten. Auch im Byzantinischen Reich trugen Frauen aus hohen Gesellschaftsschichten Schleier. Vermutlich haben die arabischen Muslime, die im 7. Jhdt. die Ostprovinzen von Byzanz und den Iran eroberten, den Schleier von den Besiegten übernommen. Die Verschleierung aller Frauen wurde erst im 9. Jahrhundert obligat. Dazu kam die räumliche und bauliche Segregation von Frauen und Männern, die bis heute als "Pardah-System" besteht und nicht nur unter Muslimen, sondern auch unter Hindus in Nordindien verbreitet ist.

Dass Frauen Kopf und Haar bedecken sollen, galt seit der Antike auch im christlichen Europa. Die Kopfbedeckung war ein Zeichen der verheirateten Frau, die "unter die Haube" gekommen war. Noch 1913 macht der römisch-katholische Codex Iuris Canonicis die Kopfbedeckung für Frauen in der Kirche obligat. Dies wurde erst nach dem Zweiten Vatikanum aufgehoben. In den 1950er-und 1960er-Jahren trugen auch in Österreich vor allem am Land die Frauen alle beim sonntäglichen Kirchgang ein Kopftuch. In Italien findet man auch heute noch Frauen, die beim Betreten der Kirche den Kopf mit einem Spitzentuch bedecken.

Die großen Rechtsschulen des Islams sind uneinig, ob der Koran Frauen und Männern dezente Kleidung vorschreibt, oder ob Kopftuch bzw. komplette Verhüllung verpflichtend sind. Ein Problem wurde das erst durch die Modernisierung. 1925 verbot Atatürk mit dem "Hutgesetz" türkischen Männern traditionelle Kleidung und auch den Fez. Das "Hutgesetz" sollte durch das Verbot religiöser Kleidung in der Öffentlichkeit den Einfluss religiöser Autoritäten blockieren und den Laizismus fördern. Frauen in öffentlichen Räumen sollten mit unbedecktem Kopf und gepflegter Frisur erscheinen. Das "Kopftuch" selbst wurde nicht verboten.

In den 1980er-Jahren kam es in der Türkei zu politischen Auseinandersetzungen über das Kopftuch, da religiös motivierte Studentinnen darauf bestanden, mit "türban" zu studieren. Unter der Regierung Erdogan wurde das Kopftuch ab 2010 in der Öffentlichkeit erlaubt. Die Kleiderordnung spielt auch im Iran eine bedeutende symbolische Rolle: Der Tschador, der schwarze Umhang, galt bis ins 18. Jahrhundert als Statussymbol vornehmer Frauen; Verschleierung wurde 1935 im Zugeder Modernisierung gesetzlich verboten und 1979 mit der iranischen Revolution gesetzlich verpflichtend eingeführt. Das Kopftuch der Frauen wurde so zum Symbol des Kampfes zwischen Islamisten und Laizisten.

Persönliche Identität und Politik

In Europa ist die Kopftuch-Debatte von Anfang an mit der Frage von Einwanderung und Integration verbunden. In Frankreich begann man in den 1980er-Jahren die Fragen von Immigration und Integration in Fragen der Religionspolitik umzumünzen. Entscheidend war die Kopftuchdebatte von 1989: Drei 13-jährigen muslimischen Schülerinnen wurde das Betreten der Schule untersagt, weil sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollten. Nach einer nationalen Debatte über laïcité und Religionsfreiheit blieben religiöse Symbole in Schulen erlaubt.

Mit dem "Kampf der Kulturen" (Samuel Huntington 1992) wurde "der Islam" immer mehr als politisches Projekt definiert. Religion wurde in den Jahren nach 2001 allgemein zu einer Frage persönlicher Identität, und die Kleiderordnung bekam neue Brisanz. Kopftuch (Hijab) und Niqab, die Ganzkörperverhüllung, wurden zu politischen Statements, in der Türkei, in Asien und Afrika und in Europa. In Frankreich wurde 2004 das Tragen von größeren religiösen Symbolen, z.B. Kleidungsstücken, verboten. All das hat das Interesse an "islamischer Kleidung" nur gefördert, und es gibt eine eigene Modeindustrie, die Musliminnen mit modischen Formen des Hijabs versorgt.

Wie komplex die Kopftuch-Frage ist, zeigt ein Blick nach Ägypten. Bedingt durch die prekäre Wirtschaftssituation müssen seit längerem immer mehr Frauen arbeiten gehen und verlassen damit den ihnen zugedachten Bereich des Hauses. Manchen von ihnen gelingt der Aufstieg in Führungspositionen. Wie die ägyptische Ethnologin Mona Hanafi El Siofi beobachtete, tendieren vor allem solche Frauen dazu, traditionelle islamische Kleidernormen zu beachten - als Signal an die Männer, dass sie die traditionelle Frauen-Rolle beibehalten, auch wenn sie als Chefin diese Rolle längst verlassen haben.

Wenn muslimische Frauen in Europa Kopftuch tragen, dann vermischen sich mehrere Ebenen. Persönliche Frömmigkeit als Motiv mischt sich mit dem Bedürfnis, Religion als Identitätsmarker zu nützen. Das "Kopftuch" kann aber auch Ausdruck jugendlicher Protestkulturen oder nationaler Zugehörigkeit sein. Das Klischee der unterdrückten Muslimin ist schon lange überholt: Junge Akademikerinnen tragen Kopftuch, engagieren sich für Frauenrechte und verstehen sich oft als Feministinnen. In Österreich ist "das Kopftuch" zwar gesetzlich durch Religionsfreiheit geschützt, doch gibt es immer wieder auch tätliche Attacken auf muslimische Frauen mit Kopftuch. Dass Freiheit auch die Freiheit der Anderen ist, muss wohl erst gelernt werden.

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