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Demokratie in der Gemeinde

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Mit 1. August 1949 ist die neue Tiroler Gemeindeordnung in Kraft getreten. Sie beschreitet neue Wege. Und doch sind es durch uralten Brauch und Rechtssinn gewiesene Wege; die unmittelbare Mitwirkung der Gemeindebürger an der Gemeindeverwaltung soll wieder ermöglicht werden.

Je weiter nach Westen, desto freier war einst die Form der Gemeinschaft. In Tirol war der Bauer immer sein eigener Herr. „Salt regiera“ — Selbstregierung — war der Grundsatz. Hier gab es nie eine Grundherrschaft, die im Osten Österreichs die Gemeinden allmählich aufsog. Noch heute versteht die Schweizer Verfassung unter „Gemeinde“ die Versammlung aller vollberechtigten Bürger. Sie sieht in der unmittelbaren Mitwirkung aller an der öffentlichen Verwaltung eine der besten Garantien gegen politische Unruhe und Umsturz. Wenn das Volk sebst entschieden bat, kann es dann mit seinen eigenen Beschlüssen unzufrieden sein?

Dem Tiroler Volk ist seit alters her eine der Schweizer ähnliche Auffassung der Gemeinde überliefert. Wenn man am Sonntag nach dem Gottesdienst in ein Tiroler Dorf kommt, sieht man auf dem Dorfplatz die Männer beisammenstehen. Der Bürgermeister benützt die Gelegenheit, den versammelten Bürgern die wichtigsten Gemeindefragen zur Kenntnis zu bringen. Es gibt Gemeinden, in denen der Bürgermeister Gemeindefragen lieber in einem kleinen Kreis bespricht. Aufgeschlossene Bürgermeister jedoch erkennen, daß eine Gemeindeverwaltung, die sich auf alle Bürger stützt, viel gesünder und haltbarer ist.

Das Tiroler Gemeindewesen hat gleich dem Salzburger seine uralten Wurzeln in den mittelalterlichen „Taidings" oder „Tadings“. In der Monatsschrift des Tiroler Gemeindeverbandes „Tiroler Gemeinde“ schrieb Univ.-Prof. Dr. Hermann Wopfner (Nr. 5 vom September 1947):

„Für das Recht der bäuerlichen Gemeinden galt der im Recht der Großgemeinde des Vintschgauer Münstertales im Jahre

1400 ausgesprochene Grundsatz: ,P a u r-

schaftre-cht stat für sich selbe r’. Das wollte besagen: Die bäuerlichen Gemeindegenossen sind in der Rechtschöpfung zur Regelung der Gemeindeangelegenheiten selbständig. Die Feststellung des Gemeinderechtes erfolgte in der Gemeindeversammlung, an welcher alle volljährigen bäuerlichen Gutsbesitzer teilnehmen mußten. Sie trat zwei- bis dreimal im Jahr zur Erledigung von Rechtssachen und Gemeindeangelegenheiten zusammen. Man nannte diese Versammlung das ,ehehaft Tading (die rechtmäßige Versammlung). In einzelnen Landschaften, so in Passaier, besteht das Tading noch heute, allerdings nur mehr zur Erledigung privater Schuldsachen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde noch in verschiedenen Gemeinden das Tading gehalten. Auf diesen Tadingen wurde dem einzelnen Gemeindegenossen die Verbindung mit seiner Gemeinde lebendig, hier nahm er Teil an der Führung der Gemeindeangelegenheiten, erhielt Einblick in sie und lernte das Gemeinderecht kennen, das in dieser Versammlung regelmäßig verkündet wurde."

Es gab bisher noch einige Gemeinden in Tirol, die die unmittelbare Mitwirkung der Bürger seit alters her übten. Von diesen Gemeinden ging der Gedanke der volksnahen Gemeindeverwaltung aus, wurde durch den Tiroler Gemeindeverband, der fast alle Gemeinden des Landes umschließt, aufgegriffen und in Form eines Entwurfs dem Gemeindereferenten Tirols vorgelegt. Landesrat Dr. Lugger, ein erfahrener Gemeindefachmann, erfaßte den tiefen Grund echter Demokratie in der Gemeinde. Nach eingehenden Studien über die Anwendbarkeit des Grundsatzes unmittelbarer Demokratie auf die Landgemeinden Tirols und nach Beratung mit den Bürgermeistern und Gemeindebeamten des Landes verfaßte er die neue Tiroler Gemeindeordnung.

Sie trägt an der Spitze, in wenigen Sätzen zusammengefaßt, einen Wunsch, der eigentlich eine Weisung darstellt, wie die neue Gemeinde-

ordnung gehandhabt werden soll. E s h e i ß t darin :

„Die Gemeinden Tirols sollen sich bewußt sein, daß sie das Fundament des Staates bilden. — Sie sollen trachten, die Verwaltung zu einer lebendigen Gemeinschaftsverwaltung zu entwickeln, an deren Songen jeder einzelne Gemeindebürger im Bewußtsein seiner Zugehörigkeit zur Gemeinde und seiner Mitverantwortung für deren gesunde Entfaltung lebhaften Anteil nimmt.“

Die Gemeinde als Fundament des Staates

„Während im Obrigkeitsstaat der Aufbau von oben dekretiert und geleitet wird ist hier der naturrechtliche Grundsatz verreten, daß der Staat auf den Gemeinden als Fundamente des Staates aufgebaut sein soll. Nur auf gesunden und festen Fundamenten kann ein großer Bau errichtet werden."

Die Gemeinde, eine lebendige Gmeinschaftsver waltung

„Das heißt: Nicht der Bürgermeister oder einige Räte sollen die Gemeinde verwalten, sondern die Gemeinschaft soll an der Verwaltung teilhaben."

Fortfahrend wird das näher erklärt: „Verwalten heißt nicht nur anordnen, sondern Mitverantwortung tragen und an der Entfaltung der Gemeinschaft Anteil nehmen.“ Die neue Tiroler Gemeindeordnung will reformerisch und erzieherisch eingreifen. Sie gibt deshalb dem Gemeindebürger, also jedem wahlberechtigten Bewohner der Gemeinde, das Recht, an der Gemeindeversammlung teilzunehmen.

In der Gemeindeversammlung hat der

Bürgermeister über die wichtigsten Angelegenheiten zu berichten, mit denen sich die Gemeindeverwaltung zu befassen hat. Zu den Ausführungen des Bürgermeisters kann jeder Gemeindebürger öffentlich Stellung nehmen.

Eine weitere unmittelbare Mitwirkung 9011 durch die Volksbefragung gegeben werden. Jeder Gemeindebürger kann einen Antrag auf Durchführung einer Volksbefragung einbringen; der Antrag ist öffentlich kundzumachen. Erklärt sich ein Sechstel der Gemeindebürger für den Antrag, so ist abzustimmen.

Die neue Gemeindeordnung gilt für alle Gemeinden Tirols mit Ausnahme der Landeshauptstadt Innsbruck, also ebenso für die Stadt- und Marktgemeinden mit einer Einwohnerzahl von 5000 bis 10.000 Einwohner wie für kleine Berggemein den.

Um die Gemeindeversammlung auch in größeren Gemeinden zu ermöglichen, enthält der § 56 über die Gemeindeversammlung die Bestimmung: Die Gemeindever sammlung kann auch für einzelne Teile der Gemeinde gesondert abgehalten werden.

Wichtig erscheint, daß die Gemeindeversammlung keine Parteiversammlung ist.

Es kann erwartet werden, daß sich aus der Reform eine lebendige Gemeinschafts- Verwaltung entwickelt, die Zugehörigkeit zur Gemeinde stärker empfunden und die Mitverantwortung und das Mitsorgen am öffentlichen Geschehen auf breiteste Schultern gelegt werden.

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