6593872-1952_44_09.jpg
Digital In Arbeit

Heimatrecht

Werbung
Werbung
Werbung

Mit den „Umsiedlungen" hat es ange- fangen und mit den „Austreibungen“ hat es geendet. Die Geschichte wird leidenschaftslos überliefern, wie es bei diesen und jenen hergegangen ist. In jedem Fall war es schmerzlich für die davon Betroffenen; denn niemand verläßt gerne seine Heimat, das Land, in dem er aufgewachsen ist, in dem er mit Ohr und Auge die Verbindung mit der belebten und unbelebten Natur aufgenommen hat.

Mit dem Schulunterricht kam das Denken, und zur sinnvollen kam die verstandesmäßige Einordnung in die menschliche Gemeinschaft und in die Landschaft. Das Gefühlsleben erwachte als Liebe zu den Eltern und Geschwistern, als Anhänglichkeit zu anderen Menschen und als Furcht vor unbekannten Mächten.

Durch Belehrung erweiterte sich der Gesichtskreis über den gleichbleibenden Horizont der Kinderaugen zum Vaterland und erwachte die Vorstellung von einem ewigen Werden und Vergehen. Durch die Heimatkunde erfolgte die Eingliederung in das Erdendasein unter Pflanzen, Tier und Menschen.

So vollzieht sich die Verwurzelung des Menschen. Da dieser mehr als eine Pflanze ist, nennen wir es lieber die seelische Bindung des Menschen an die Mitmenschen und an den Boden. Mutter sprache und Dialekt, Vaterhaus und Wohnort, alles zusammen die Heimat, ist viel mehr als der Lebenssaft, das Blut allein. Die Bindung ist so stark, daß die Trennung schmerzlich empfunden wird. Es ist das Heimweh, an dem jeder Mensch jeden Alters leidet, wenn er in die Fremde geht. Und noch nach vielen Jahren. trägt der Mensch in den fernsten Ländern das Bild seiner Heimat in sich, wie das in ergreifender Weise in Peter Roseggers Roman „Jakob der Letzte“ geschrieben steht. So stark ist die seelische Bindung an die Heimat, daß gar mancher Mensch den Wunsch hegt, einmal in der Heimaterde begraben zu sein.

Dieser unschätzbare Besitz, eine Heimat zu haben, war in Österreich durch das Heimatgesetz geschützt. Es ist vom 5. März 1862 und 3. Dezember 1863, gefolgt von einer Novelle Vom 5. Dezember 1896. Nach diesem Gesetz ist „die Heimat, an sich ein Begriff der Sitte, der Ausdruck der Anhänglichkeit an ein Gebiet, an das uns Familientradition, Erinnerungen an die Jugend oder an die Gründung eines selbständigen Herdes knüpfen". Richtige Worte für jeden, der von Seelenkunde auch nur etwas versteht. So legte ein einfacher und verständlicher Gesetzestext den so großen und leuchtenden Heimatbegriff fest, von dem Franz Karl Ginzkey sagt: „Es ist schön und gut, daß dergleichen überhaupt besteht, ob es nun dir gehört oder anderen."

Dieses Gesetz gewährleistete das Recht des unentziehbaren Wohnsitzes und „das Recht des ungestörten Aufenthaltes". Es ist für denjenigen, der in seinem Geburtsort aufwächst, ein angeborenes Menschenrecht, gesetzlich sanktioniert. Es konnte aber auch erworben werden, denn der Mensch ist mehr als aus Blut und Boden, er hat auch eine Seele, mit der er sich ein Plätzchen auf der Erdoberfläche suchen und zu eigen machen kann. Wer durch zehn, der Bewerbung um das Heimatrecht vorausgegangene Jahre sich freiwillig und ununterbrochen in der Gemeinde aufhält, ohne der öffentlichen Armenversorgung zur Last gefallen zu sein, erwirbt sich das Heimatrecht. Dieses besteht in einer Gemeinde so lange, bis ein Heimatrecht in einer anderen Gemeinde begründet oder die österreichische Staatsbürgerschaft verloren wird. Diese bis in das Jahr des österreichischen Gemeindegesetzes 1859, also fast hundert Jahre zurückreichenden Bestimmungen sind von grundlegender Bedeutung für das menschliche Dasein überhaupt!

Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach einem bleibenden Aufenthalt. Das liegt in der Natur des seßhaft gewordenen Menschen, vom Schafhirten bis zum Philosophen, zum Unterschied vom Nomaden auf einer niedrigeren Kulturstufe. Daher war die Aufhebung des Heimatgesetzes, die durch fremde Machthaber in Österreich am 15. September 1938 erfolgt ist, eine Todsünde wider den Geist der abendländischen Kultur. Durch die enge Bindung mit der Heimat geht der Mensch ja auch nicht einem größeren Verband, dem Volk oder dem Staat, verloren. Der Dichter Adalbert Stifter ist ein schönes Beispiel dafür: der Böhmerwald war seine kleine Heimat und Österreich seine große.

Verwaltungsmäßig ist die Heimat eine Gemeinde und gehört der Mensch einer Heimatgemeinde an. In der Gemeinde geht alles, was das Leben im Staate bewegt, im kleinen vor sich. Das Schulwesen, die Tradition, die öffentliche Fürsorge, das Rechtswesen usw., alle diese Seiten menschlichen Daseins und der Gesellschaftsordnung können nur hier in ihrer Lebensverbundenheit betrachtet und in ihrem Wesen erkannt werden. Der Mensch begnügt sich nicht mit frischer Luft, gutem Essen, Berufsarbeit und Vergnügungen, er will auch mittun, sich beteiligen an den Einrichtungen und Werken, die über das Interesse des einzelnen hinausgehen: Erziehung, Industrialisie-

sierung, Kultivierung, Verwaltung und Politik, Landessicherung und -Verteidigung. In der Gemeinde kann er sich einfühlen und einordnen, in der Gemeinde kann er auch, wenn er die Berufung dazu fühlt, eine führende Rolle übernehmen. Wer Gemeinderat mit klugem Kopf und reinen Händen war, kann Nationalrat werden. Denn die Gemeinde ist das kleinste Format innenpolitischer Ordnung und Vorgänge in jeder Beziehung. Sie ist die Zelle im Aufbau der Politik. Wenn dann noch jeder wahlberechtigte Bewohner der Gemeinde das schon in der neuen T-iroler Gemeindeordnung vom 1. August 1949 verankerte Recht bekommt, an den Gemeindeversammlungen teilzunehmen, dann wird in Hinkunft, um mit dem österreichischen Dichter Hermann Bahr zu sprechen, „die Gemeinde den Keim aller Freiheit“ darstellen und damit die Verankerung einer echten Demokratie, unabhängig von der Staatsform und von Einflüssen von seiten benachbarter Staaten oder landfremder Ideologien.

„Was ist die Heimat anderes als der Nährboden der Seele für alle ihr beschie- denen Wege? Sie steht am Anfang aller ihrer Entwicklung, ist die Grundlage des Aufbaues aller Persönlichkeit" (F. K. Ginzkey) und die Heimatgemeinden sind die Grundlage des politischen Aufbaues und Lebens im Staate. Daher ist die Verankerung des Menschen in einer Heimat, wie sie durch die österreichische Heimatzuständigkeit erfolgte, von gleicher Bedeutung für das Leben des einzelnen wie für das des Staates. Also sollte sie wieder gesetzlich festgelegt werden. Es wird vielleicht gar nicht notwendig sein, an dem Gesetzestext, aus dem wir einiges angeführt haben, viel zu ändern. Erforderlich dürfte aber ein Zusatz sein, der die Einbürgerung von Flüchtlingen regelt. Er muß im Geiste jener abgefaßt werden, die das alte österreichische Heimatgesetz gemacht haben. Das müssen gute Menschen gewesen sein.

Seit der Entstehung des Gesetzes sind nun neunzig Jahre vergangen. In diesen drei Menschenaltern hat sich manches im menschlichen Dasein geändert. Damals haben nicht viele ihre Heimat verlassen, um an einem anderen Ort des Staates, ihren Lebensberuf auszuüben, und ganz selten ist jemand ins Ausland verzogen. Die moderne Verkehrstechnik hat es mit sich gebracht, daß der Mensch leichter in die Welt hinaus zieht. Der Durchschnittsmensch denkt in größeren Entfernungen und Räumen. Vielleicht werden auch die Staatsgebilde größer werden. Aber der Mensch wird deswegen nicht weniger an seiner kleinen Heimat hängen. Unter tausend Fäden, die ihn mit ihr verbinden, sind einige unzerreißbare Lebensfäden im wahrsten Sinne des Wortes, allerdings nicht des leiblichen, sondern des seelischen Lebens. So wäre es zeit- und zukunftsgemäß, zu erwägen, ob nicht eine Heimatversicherung ins Leben zu rufen wäre. Jeder Mensch (Österreicher), der gezwungen ist, sich außer Landes den Lebensunterhalt zu verdienen, sollte die Gewähr haben, im Falle der Arbeitsunfähigkeit oder des Alters, in seine Heimat zurückkehren und hier seinen Lebensabend verbringen zu können. Die Beiträge zu dieser Versicherung könnten von seinen Angehörigen oder von ihm selbst aus dem Erlös seiner Arbeit in der Fremde oder von beiden Teilen geleistet werden. Treuhänder der geleisteten Beträge wäre jeweils die Gemeinde mit all ihrem Besitz und ihren sozialen Einrichtungen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sich der Mensch in dem vielleicht etwas überzivilisierten und überkultivierten Leben heute nach einem gesicherten Ruheplätzchen so sehnt wie der Wüstenwanderer nach einem Schluck Wasser. Bringen wir daher das Heimatgesetz wieder zur Geltung und sichern wir die Heimat all denen, die sie aus Existenzgründen auf unbestimmt lange Zeit verlassen müssen. Machen wir so gute Arbeit, daß andere Staaten sich dieselbe zum Vorbild nehmen, womit wir zugleich einen Beitrag für den Frieden der Menschen auf Erden leisten!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung