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Über Dorf und Land zum Staat

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Das geplante neue österreichische Staatsbürgerschaftsgesetz verzichtet unter anderem auf zwei Institutionen unseres Rechtes, die in der Zeit der NS-Herrschaft beseitigt wurden und nunmehr auch aus unserer Bundesverfassung endgültig ausgemerzt werden sollen: das Heimatrecht und die Landesbürgerschaften.

Um es gleich vorwegzunehmen, zeichnet sich in diesem beabsichtigten Verzicht unverkennbar der bisher größte Sieg der zentralistischen Kräfte in unserer Demokratie über den Föderalismus ab. Es kann daher nicht genug bedauert werden, daß der Verfasser dieser Zeilen in der Länderbesprechung mit seinem Votum für ein modifiziertes Heimatrecht und für die Beibehaltung der Landesbürgerschaften nicht jene Unterstützung der Länder gefunden hat, die erforderlich gewesen wäre, um diesen Einbruch in unseren föderalistischen Staatsaufbau abzuwehren. Umso erfreulicher ist es daher, daß nunmehr der Österreichische Gemeindebund als berufene Interessenvertretung der Gemeinden, sich eindeutig für die Wiedereinführung eines modifizierten Heimatrechtes ausgesprochen und hierüber eine Aussprache gefordert hat.

Damit ist auch der Zeitpunkt gekommen, die Probleme einmal nach allen Seiten zu beleuchten.

Die Rechtsgrundlage des Heimatrechtes beruht zunächst auf dem Heimatrechtsgesetz 1863. Wie das Reichsgemeindegesetz im vergangenen Jahre auf 100 Jahre seines Bestehens zurückblicken konnte, könnte auch das Heimatrecht in diesem Jahr seinen hundertjährigen Bestand begehen. Schon aus der zeitlichen Nähe dieser beiden Gesetze läßt sich nicht nur ihr organischer Zusammenhang, sondern auch die tiefere Erkenntnis der großen Bedeutung des Heimatrechtes für die Entwicklung des demokratischen Gedankengutes des Gemeinderechtes erkennen. Während es den Gemeinden gelungen ist, an Stelle des alten Reichsgemeindegesetzes in der Bundesverfassungsnovelle 1962 ein der Entwicklung eines Jahrhunderts weitgehend angepaßtes Gemeinderecht zu erhalten, das die Bedeutungi der Gemeinden im Staate nicht nur anerkennt, sondern sogar noch stärkt, scheint sich im Staatsbürgerschaftsgesetz eine entgegengesetzte Entwicklung anzubahnen, in dem nicht, wie dort, Altes und Bewährtes den Zeitverhältnissen angepaßt wird, sondern dessen Zerschtagung durch das deutsche Reichsgemeindegesetz endgültig legalisiert werden soll.

Die Argumente, die hierbei in die Waagschale geworfen werden, sind sowohl materiell-rechtlicher, als auch verwaltungstechnischer Natur. Das Argument, daß die beiden sichtbaren und daher wesentlichen Rechtsinhalte des Heimatrechtes durch die Zeitverhältnisse praktisch wertlos geworden seien, überzeugt nicht. Denn einmal ist das Recht des ungestörten Aufenthaltes in der Heimatgemeinde bereits vier Jahre später durch das Staatsgrundgesetz 1867 dahingehend erweitert worden, daß jeder Staatsbürger an jedem Orte des Staatsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz nehmen konnte. Die wenigen grundsätzlichen Ausnahmen beziehungsweise Beschränkungen dieses Grundrechtes betrafen zunächst einmal jene wenigen Personen, die durch ihr asoziales, meist kriminelles Verhalten in Erscheinung getreten waren und daher, soweit eine Ausweisung in einen anderen Staat unmöglich war, eben nur in ihre Heimatgemeinde abgeschoben werden konnten. Aber auch der Kreis jener Personen, die in ihre Heimatgemeinden abgeschoben wurden, weil sie der öffentlichen Fürsorge anheimfielen oder anheim zu fallen drohten, und dort ein ungestörtes Aufenthaltsrecht und Anspruch auf Armenversorgung hatten, dürfte fünf von Hundert der Bevölkerung kaum ausgemacht haben. Daß dieses Recht auch mißbraucht wurde, ist nicht zu leugnen. Anderseits erinnert sich der Verfasser noch eines Falles von 1938, in dem eine kleine Berggemeinde für einen seit früher Jugend abgewanderten Gemeindeangehörigen für seinen Krankenhausauftenhalt in einem Jahre Aufwendungen hatte, die höher als der gesamte übrige Jahreshaushalt der Gemeinde waren.

Durch die Entwicklung des Sozialversicherungswesens ist der Kreis der fürsorgebedürftigen Personen für die Gemeinden wesentlich verringert worden. Die Verlagerung der Fürsorge auf die breiteren Schultern der Bezirksfürsorgeverbände hat die Gemeinden von ihrer Fürsorgepflicht, der sogenannten Armenfürsorge — weitgehend entlastet.

Niemand will und wird dies wieder rückgängig machen.

Dem verschwindend kleinen Teil jener Personen, denen das Heimatrecht nichts anderes als diese beiden Rechte des ungestörten Aufenthaltes und des Anspruches auf Armenversorgung bedeutete, stehen die 95 von Hundert jener Staatsbürger gegenüber, die von diesen materiellen Rechten nie Gebrauch machen mußten und trotzdem im Heimatrecht ein Rechtsgut erblickten, dessen ideellen Werte weit überwogen.

Damit wird aber auch gleichzeitig das verwaltungstechnische Argument weitgehend entkräftet; denn mit dem Wegfall der Fürsorgepflicht der Heimatgemeinde entfällt auch das rechtliche Interesse, einen Gemeindeangehörigen nach zehnjähriger Abwesenheit und gleichzeitig ununterbrochenem Aufenthalt in einer anderen Gemeinde dieser sozusagen zwangsweise zuzuschieben. Gleichzeitig tritt das persönliche Interesse des Einzelnen, das Heimatrecht in der Gemeinde zu erhalten, in der man nun schon zehn Jahre den Mittelpunkt der Lebensbe-zichungen gefunden hat. in den Vordergrund. Diese Verschiebung des rechtlichen Interesses kann aber geradezu zu einer Aufwertung des alten Heimatrechtes führen.

Damit kommen wir auf den tieferen Sinn des Heimatrechtes. Das Hineinwachsen des Menschen in die größeren Gemeinschaften erfolgt nun einmal über den Weg der kleineren Gemeinschaften. Es beginnt mit dem Hineinwachsen des Kindes in die Familie und wird erst über das Hineinwachsen >r die Dorfgemeinschaft zum Heimatbewußtsein, und erst über dieses zurr Staatsbewußtsein. Diese Erkenntnis hat ihren festen Platz in den Staatswissenschaften und sollte daher auch von den Vertretern des Zentralismus nicht ganz übersehen weiden.

Gerade dieses Heimatbewußtsein aus der Verbundenheit mit einer Heimatgemeinde ist es, das alle Stürme der letzten hundert Jahre überdauert hat.

Sehen wir aber auch von diesen ideologischen Gedankengängen ab, dann hat Österreich wirklich am wenigsten Ursache, das Heimatrecht so billig aufzugeben, solange man nichts Besseres an dessen Stelle gefunden hat. Es ist nicht nur in unserer Bundesverfassung verankert, sondern hat schließlich durch seine Aufnahme in eine Anzahl von Staatsverträgen auch völkerrechtliche Anerkennung gefunden.

Wer nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie Angehöriger unseres kleineren Österreichs wurde, bestimmte sich nach dem Staatsvertrag von St. Germain vor allem nach seinem Heimatrecht in einer Gemeinde der heutigen Republik. In gleicher Weise ist das Heimatrecht die Grundlage des Staatsbürgerschaftsrechtes in den Nachfolgestaaten Österreichs geworden und in die Verträge mit der Tschechoslowakischen Republik, mit Ungarn, Rumänien und Jugoslawien aufgenommen worden. Es hat in eine Reihe zwischenstaatlicher Verträge Eingang gefunden. Das Heimatrecht ist damit durchaus nicht mehr bloß ein innerstaatliches Recht, sondern ein Bestandteil des Völkerrechtes geworden, über das wir uns auch aus streng juristischen Gründen nicht einfach hinwegsetzen dürfen.

Das Heimatrecht ist vor allem aber auch die Grundlage des ganzen Minderheitenrechtes und Minderheitenschutzes geworden. Mag dieses Minderheitenrecht durch die Austreibung von Millionen von Menschen deutscher Sprache auch viel von seiner früheren Bedeutung verloren haben, auch das Recht der Südtiroler ist im wesentlichen auf dem HeimatrecJit in einer Gemeinde dieses Gebietes begründte. Zerstören wir selbst dieses Heimatrecht, dann entziehen wir auch ihnen eine der völkerrechtlichen Grundlagen ihrer volklichen Eigenständigkeit und damit ihres heldenmütigen Ringens um deren Erhaltung.

Zu diesen grundsätzlichen Argumenten kommt noch, daß die Staatsverwaltung auch nach einer völligen Aufhebung des Heimatrechtes nicht darauf verzichten kann, die Staatsbürgerschaft des Großteiles ihrer Bürger irgendwie doch vom Heimatrecht der Vorfahren in Österreich abhängig zu machen.

Ähnlich verhält es sich mit den Landesbürgerschaften. Österreich hat sich in seiner Verfassung als Bundesstaat konstituiert. E^beuso wie aber zu jedem Staat ein Staatsgebiet und ein Staatsvolk gehört, muß auch zu jedem selbständigen Bundesland, 'dessen Staatscharakter eindeutig feststeht, nicht nur ein Landesgebiet, sondern auch ein lebendiger Körper, die Gesamtheit der Landesbürger gehören. 'Auch hier kommt es nicht auf den materiellrechtlichen Gehalt der Landesbürgerschaft an. Diese Tatsachen sollte man wirklich nicht erst aus der Standardliteratur der Staatswissenschaften begründen müssen. Gibt es in unserem Bundesstaat nur mehr Bundesländer als geographischen Begriff, dann ist es bis zu ihrer Degradierung zu bloßen Provinzen nicht mehr weit. Gibt es in Österreich aber einmal keine Steirer, Burgenländer und Vorarlberger mehr, dann wird es bald auch keine Tiroler mehr geben. Gibt es in der Welt aber einmal keine Tiroler mehr, dann ist auch der Zeitpunkt nicht mehr ferne, in dem es auch keine Südtiroler mehr geben wird. Nur unter der Parole „Südtirol“ kann Österreich den Kampf um die Erhaltung des dortigen Volkstums weiterführen, weil dieser Kampf sonst früher oder später verfälscht werden würde, wenn es nicht mehr um die ,.Südtiroler“, sondern um „Südösterreicher“ singe. Auch das' muß einmal in aller Deutlichkeit gesagt sein.

Damit soll nun nicht einfach versucht werden, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen und das Heimatrecht in seiner früheren Gestalt wieder eingeführt werden. Niemand denkt an eine Aufwertung der beiden eingangs genannten Inhalte des Heimatrechtes. Woran wir aber festhalten müssen, ist und bleibt die Tatsache, daß Heimatrecht und Landesbürgerschaft unabdingbare Grundelemente unseres föderalistischen Staatsaufbaues sind und bleiben müssen, und daß wir nur über die Heimatgemeinde und Landesbürgerschaften zu einer vollen Einordnung des Einzelnen in die größere Gemeinschaft unseres Vaterlandes gelangen können. Das Beispiel der benachbarten Schweiz, die auf eine noch ältere und ununterbrochene demokra-tsche Erfahrung zurückblicken kann, beweist uns mehr als alle rechtsphilosophischen Überlegungen, daß letztlich die Erziehung des Menschen zum demokratischen Staatsbürger in der Gemeinde beginnt.

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