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Heimatrecht -Landesburgerschaft

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Jede Staatslehre erklärt den Bestand eines Staatsvolkes, einer Summe von Menschen, die einen bestimmten Staat als ihr Vaterland in Anspruch nehmen, als eines der Bestimmungs-Stücke für das Bestehen eines Staates. Das Völkerrecht fordert dies desgleichen, um einem Völkerrechtssubjekt vorbehaltlose Anerkennung einzuräumen. Hinwiederum erhebt jeder Staat auf die Menschen Anspruch, die er für seine Bürger erklärt und anerkennt.

Die Staatsbürgerschaft gehört daher zu den wichtigsten Personenstandsmerkmalen, und man darf die bekannte Formel verallgemeinern; extra rem publicam non est salus, außerhalb des Staates ist kein Heil. Wessen Gelehrsamkeit zu groß ist, um diese Binsenwahrheit zu erkennen, der frage die Staatenlosen, und er wird die instruktivste Erläuterung erhalten.

Doch der Staat ist groß. Der Zar ist meist weit. Der Mensch braucht eine Gemeinschaft, die enger ist. Natürlich war unser Gemeinschaftsleben nur so lange, als jeder jeden in der Ortsgemeinde, im Dorf, im Markt, im Städtchen kannte. Die moderne Entwicklung des arbeitsteiligen Lebens, der Entfaltung der Wirtschaft und der Ueberwindung des Raumes durch die neuzeitlichen Verkehrsmittel zerstörte dieses durch die Natur gewobene Band immer mehr. Die Heimat wurde oft und oft nicht mehr dort gesehen, wo der Ursprung des Menschen lag, die Stätte seiner Geburt, sondern jener Ort wurde als Heimat, als „Zuhause“ empfunden, wo man den Mittelpunkt seines Lebens, seine Bleibe, sein Schaffen und sein Brot gefunden hatte. Dadurch entstand zweifellos ein juristisches Problem.

Seit der Zeit, da der Mensch aufhörte, einer bestimmten Grundherrschaft anzugehören, mußte der Staat das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft neu regeln. Das Problem kam zum Ausdruck durch das Gesetz vom 17. März 1849. Mit der Reorganisation der Gemeindeverfassung, die dem Geist der Zeit entsprechend im demokratischen Sinn erfloß, erhielt das Heimatrecht mit Rücksicht auf die soziale Gliederung der Bevölkerung und in den Städten der Begriff des Bürgerrechts neue hohe Bedeutung. Artikel 2 des Gemeindegesetzes vom 5. März 1862, RGBl. Nr. 18, stellte daher den Grundsatz auf, daß jeder Staatsbürger einer bestimmten Gemeinde angehören müsse. In einer den Bedürfnissen der Neuzeit angepaßten Weise ordnete daher das Gesetz vom 3. Dezember 1863, RGBl. Nr. 105, das Heimatrecht, und die Novelle vom 5. Dezember 1896, RGBl. Nr. 222, schuf die neuerdings erforderlichen Reformen.

Aus diesem Heimatrecht erwuchs jedem österreichischen Staatsbürger ein subjektives Zustandsrecht, wodurch die dauernde Angehörigkeit des Individuums an einen bestimmten Ortsverband begründet war, aus welcher Zugehörigkeit sich besondere Rechtswirkungen ergaben, nämlich insbesondere die Berechtigung des unentziehbaren ungestörten Aufenthaltes im Gebiete der Heimatgemeinde, so daß jede Ausweisung aus diesem Gebiete ausgeschlossen war. Daß daraus auch der Anspruch im Falle des Bedürfnisses auf Armenpflege erwuchs, war nur eine unwesentliche Nebenerscheinung, die nicht in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden sollte. (Ulbricht: Oesterreichisches Staatsrecht, S. 118.) Das Entscheidende war das darin zum Ausdruck kommende Sozialethos, das darauf abzielte, auch dem Aermstcn und verlassensten Staatsbürger ein Fleckchen dieser Erde, seines Vaterlandes, das seine Liebe forderte, seine Liebe bis zur Hingabe des Lebens in seiner höchsten Not, im Kriegsfall, einzuräumen und unverweigerlich zu sichern. Mit Recht weist Johannes M e s s n e r darauf hin, daß die soziale Liebe um so lebendiger und wirksamer ist, je unmittelbarer der einzelne mit einem besonderen Gemeinwohl verbunden ist. Oft und oft war auch die Heimatgemeinde ein Raum der Stammesverwandtschaft, der Familienversippung, die als Quelle der Persönlichkeitsentfaltung einen Nährboden bot, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte. Heimatgefühl und Heimatliebe sind ein Urelement des Volksbewußtseins, sind Lebenswerte, für die der Mensch, wenn nötig, die größten Opfer zu bringen bereit ist. Diese Heimatliebe hat nichts zu tun mit jenem rationalistischen Nationalismus, von dem A. A. Toynbee schon 1915 sagte, daß er eine Bedrohung unserer Kultur in sich berge. (Vgl. Johannes Messner: Naturrecht. S. 235, 316, 318, 367 und 611.)

Sicherlich, durch das juristische Band des gesetzlichen Heimatrechtes allein wird das Hochgefühl der Heimatverbundenheit weder begründet noch durch die Beseitigung dieses Rechtsbandes unmittelbar zerstört. Dennoch folgte unsere Bundesverfassung im Jahre. 1920 mit Recht „der alten Tradition auf dem Gebiete des Staatsbürgerrechtes und sprach im Artikel 6 den Grundsatz aus, daß zwischen Staatsbürgerschaft und Heimatrecht eine prinzipielle Verbindung in dem Sinne besteht, daß jeder Staatsbürger heimatberechtigt sein müsse und nur ein Heimatberechtigter Staatsbürger sein könne“. (Vgl. Hans Kelsen: Bundesverfassung, S. 72.) Mag sein, daß in der damaligen Notzeit in erster Linie an die Armenversorgung gedacht war. Diese Zustände sind, Gott sei Dank, überwunden. Heute darf die Frage des Heimatrechtes von einer höheren Warte und unter edleren Gesichtspunkten als dem der Abwälzung einer lästigen Pflicht betrachtet werden.

Während der deutschen Besetzung wurde das Heimatrecht durch Verordnung vom 30. Juni 1939, DRGB1. I, Seite 1072, einfach aufgehoben. Die Heimatrechtsnachweise, Heimatrollen der Gemeinden, Heimatscheine stellen jedoch in Ermangelung ausreichender Staatsbürgerevidenz auch heute noch die wichtigsten Beweismittel für die Anerkennung derStaatsbürgerschaft dar. (Vgl. Ludwig Adamovich: Handbuch des österreichischen Verwaltungsrechts, S. 7.) Auch der Staatsvertrag von Saint-Germain sah in der Zugehörigkeit zur Heimatgemeinde das natürliche Kennzeichen der Staatszugehörigkeit. (Adamovich, a. a. O., S. 18.)

Unsere Bundesverfassung verknüpft aber mit dem Heimatrecht auch die Landesbürgcr-schaff. Erst durch sie wird die Bundesbürgerschaft erworben. Wohl schreibt die Bundesverfassung vor, daß die Bedingungen für Erwerb und Verlust der Landesbürgerschaft in jedem Lande gleich sind und daß die Bundesbürger in jedem Lande die gleichen Rechte und Pflichten haben wie die Bürger des Landes selbst. Dennoch bildete die Landesbürgerschaft ein ideelles Band, das nicht zerrissen bleiben soll. Fiel es doch damals, als der Name Oesterreich fiel und an seiner Stelle nicht einmal der ehrwürdige Begriff der Ostmark bleiben durfte, sondern die gänzlich undeutsche Prägung der Alpen- und Donaugaue trat.

Wir sollten uns nicht einfach mit der Tat-sachenkonstatierung: „Da das Heimatrecht durch die deutsche Gesetzgebung beseitigt und bisher nicht wieder eingeführt wurde, entbehrt Artikel 6 der Bundesverfassung dermalen der Ausführung“ (Adamovich: Die österreichischen Bundesverfassungsgesetze, S. 31), zufrieden geben. Der Jurist mag so schreiben; der Politiker hat anders zu denken! Zumal wenn der Jurist mit seinem Wörtchen „dermalen“ deutlich als Mahner auftritt.

Der moralische Wert des Heimatrechtes ist nicht zu verkennen. Die mit seiner Wiedereinführung entstehenden finanziellen Probleme sind nicht so erheblich, daß sie bei einigem guten Willen aller Beteiligter nicht gelöst werden könnten. Der aus dem norddeutschen und englischen Recht stammende Standpunkt, bei dem der rein armenrechtliche Gedanke überwog, ist Oesterreich wie auch andeten Staaten fremd. Bayern z. B. bewahrte sich das Heimatrecht bei der Gründung des Bismarck-Reiches 1871 ausdrücklich und hielt an seinem Heimatrechtgesetz vom 1. September 1868 fest.

Die Schranken, unser Recht zu gestalten, sind mit dem Belvedere-Vertrag vom 15. Mai 1955 de iure gefallen. Bald werden sie mit dem Abzug der fremden Truppen auch de facto gefallen sein. Vollenden wir und stellen wir unsere Verfassung sodann auch auf diesem Gebiet wieder her: In Oesterreich soll jeder Staatsbürger wieder eine Heimat haben. Nicht nur in seinem Herzen, sondern auch kraft Rechtens! Das rechtliche Band zum einzelnen Bundesland soll gleichfalls nicht bloß ein bürokratischer Akt auf Grund einer unklaren Kompetenzverstrickung sein, sondern eine echte gesetzliche Verbindung, die Landesbürgerschaft, die unsere Bundesverfassung vorschreibt. Zu viele haben in diesen unseligen Zeiten die Heimat verloren, als daß wir nicht wieder ein enges Band mit ihr knüpfen sollten — auch durch das Gesetz!

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