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Nachdenken über die Heimat

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Ist die im Juli 1994 an einem Tiroler Grenzübergang verhaftete Südtirol-Aktivistin Carola Unterkircher in Österreich beheimatet oder in ihrer „Wahlheimat” Südtirol? Sind die in Oberwart (und anderswo) lebenden Roma wirklich in Österreich beheimatet, wie sie es ihrer eigenen Aussage nach empfinden? Und wie fühlt sich heute ein sensibler Bürger der ehemaligen DDR einem Deutschland zugehörig, das nicht nur in der Nachfolge des NS-Staates sondern auch des Bismarck-Reiches als Nationalstaat der Deutschen steht?

Und ist es ein Zufall, wenn eine aus Polen stammende Jüdin, die in Frankreich aufwuchs und sich durch die zeitbedingten Schicksalswirren mit ihrer eigenen Mutter in keiner Sprache mehr verständigen konnte, daß diese Frau Sprachwissenschaftlerin wurde? Und wie geschieht Hei-matfindung und Identitätsstiftung bei jungen in Israel lebenden Juden, wenn diese sich selbst als „Uberlebende des Holocaust” bezeichnen? In welchem Bewußtsein bezeichnet ein österreichischer Hochschulprofessor die „österreichische Nation' als my-thisierende Pathosformel, derer sich der Staat in politischer Demagogie bedient?

Ein solch breites - und selbstverständlich unvollständiges - Spektrum unterschiedlicher Meinungen gab es kürzlich bei einem vom Jüdischen Museum in Wien veranstalteten Symposion zum Thema „Heimatgedanken”, das eingebettet war in die dort noch bis 27. März laufende Ausstellung „Heimat - auf der Suche nach der verlorenen Identität”.

Aber nicht die Rehabilitierung eines von Musikantenstadl und neuvölkischem Politikverständnis mißbrauchten Begriffes hatte man sich bei dieser Veranstaltung zur Aufgabe gemacht, sondern Fachwissenschaftler waren aufgerufen, den vielfach in Verruf gebrachten Terminus „Heimat” kritisch zu durchleuchten und zu analysieren. Unter ihnen leisteten Historiker, Geographen, Volkskundler neben autobiographischen Berichten die wichtigsten Beiträge.

Das beispielsweise in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert für einen bestimmten Ort geltende Heimatrecht bedeutete damals nämlich, daß der dort Beheimatete in einer Notsituation im Alter in seiner Gemeinde einen Anspruch auf Versorgung hatte, daß die Heimatgemeinde ihre Zustimmung zur Eheschließung des Mannes geben mußte ehe auch die Frau Heimatrecht erhielt, daß „Heimat” als ursprünglich bäuerlicher Besitz von Haus und Hof an den Erstgeborenen vererbt wurde. Gleichzeitig konnte man in den deutschen Landstädtchen des 17./18. Jahrhunderts das Wirtschaftsleben durch die restriktiv gehandhabte Verleihung des Heimatrechtes lenken: Waren bereits genug Schuster in der Stadt - genug für die Versorgung der Bevölkerung, aber auch genug an der Zahl, die dort ihren Lebensunterhalt finden konnte - wurde Berufskonkurrenten aus Nachbarorten Zuzug, Niederlassung und Heimatrecht verweigert. Die so privilegierten Bürger ihres Städtchens wußten sich geschützt und abgesichert.

Erst die von Napoleon in Deutschland eingeführte Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit und nachfolgend die durch Industrialisierung und Entwicklung des Kapitalismus notwendige Mobilität hoben diese Sonderregelungen endgültig auf. Schweizer Bürger haben noch heute zunächst das Gemeindebürgerrecht, dann erst das kantonale Heimatrecht und das Staatsbürgerrecht.

Mehr als ihnen selbst bewußt orientieren sich Vertreter der säuberlichen Unterscheidung von In- und Ausländern vermutlich noch an den Denkschemata in diesen historischen Vorrechten und Ansprüchen. Daran ändert bedauerlicherweise auch eine hochkarätige Intellektuellen-Veranstaltung nur wenig mit ihrem Versuch einer Neudefinition von „Heimat” als für menschliches Dasein unbedingt notwendiger Geborgenheitserfahrung, die unabhängig ist von regionaler Zugehörigkeit.

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