Keine Anreize zum "Rosinenpicken" geben

Werbung
Werbung
Werbung

Wirtschaftlicher Wettbewerb zwischen Kassen, Ärzten und Spitälern steht in direktem Widerspruch zum sozialpolitischen Auftrag der Solidarität.

Funktionierende Konkurrenz zwischen eigennützigen Wirtschaftssubjekten gilt zu Recht als der verlässlichste Anreiz für Innovation und niedrige Preise. Im Gesundheitswesen ist beides dringend erforderlich: Innovationen im Hinblick auf Prävention, Patientenorientierung, Versorgungsintegration und Leistungsqualität sind zum Teil seit Jahrzehnten überfällig, Kosten beziehungsweise Preise gelten vielfach als überhöht. Warum also nicht mehr wirtschaftliche Konkurrenz im Gesundheitswesen?

Wenn Krankenkassen (wie in Deutschland seit Beginn der neunziger Jahre) miteinander konkurrieren, dann wetteifern sie nicht in erster Linie um bessere und billigere Versorgung, sondern um junge, gut gebildete und gesunde Versicherte in dauerhafter beruflicher Position. Die zahlen - im deutschen wie im österreichischen Sozialversicherungssystem - gute Beiträge und sind weniger krank, sie "kosten" die Kasse nur ein Bruchteil der diabetischen Altersrentnerin oder gar des Hämophiliepatienten. Weil sich die Kassen mit erfolgreicher "Jagd auf gute Risiken" wirtschaftlich erheblich erfolgreicher stellen können als mit mühsamen Verbesserungen der Verträge mit Ärzten und Spitälern, wenden sich Aufmerksamkeit und Zuwendung von den schutzbedürftigsten Gruppen der Bevölkerung ab. Der ursprünglich egalitäre sozialpolitische Auftrag der Kassen tritt in den Hintergrund. Die Politik versucht durch allerlei Instrumente (vor allem Risikostrukturausgleich, Kontrahierungszwang) diese unerwünschten Wirkungen der Konkurrenz zu mindern, bis heute weitgehend erfolglos, die Anreize zum "Rosinenpicken" sind zu stark.

Wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Ärzten oder Ärztegruppen oder auch zwischen Spitälern führt - formell oder unter der Hand - zu unseriösen Versprechungen und Bevorzugungen für die begehrten (medizinisch eher unproblematischen) Versicherten und - in der Tendenz - zum Abschieben schwieriger und teurer Patienten an die Konkurrenz.

Wenn Kassen direkt mit einzelnen Ärzten oder Ärztezusammenschlüssen verhandeln, setzen sie - das zeigt das Beispiel USA - nicht nur geringere Honorare, sondern auch niedrigere Behandlungsstandards durch und greifen tiefer als jede Regierung in die Therapiefreiheit ein. Weniger bürokratisch geht es dabei auch nicht zu.

Wenn sich Ärzte - wie in der Schweiz - zu Health Maintenance Organizations (HMO) zusammenschließen und komplette Versorgung in kooperativen Netzwerken anbieten, sind sie auf den ersten Blick um cirka ein Fünftel billiger als herkömmliche Versorgung. Aber: drei Viertel dieser Ersparnis beruht darauf, dass sich vorwiegend junge, besser gebildete und gesunde Versicherte für HMO's entscheiden. Deshalb werben HMO's auch mit Vorrang genau um diese Versicherten. Welches Interesse sollte eine in der Konkurrenz stehende HMO auch daran haben, integrierte Versorgungsformen zum Beispiel für Herzkranke, chronisch Rückenleidende oder weniger gebildete Versicherte zu entwickeln und anzubieten? Ertragreicher ist es, solche Versicherten und Patienten - formell oder unter der Hand - fernzuhalten oder dem Konkurrenten zuzuschieben.

Der Versicherte kann sich - theoretisch - gegen solche Verschlimmbesserungen durch Wechsel der Versicherung, des Arztes, der HMO wehren. Praktisch dagegen wechseln bei gegebener Wahlfreiheit wie in Deutschland fast ausschließlich wiederum die "guten Risiken" - die weniger Gebildeten, die chronisch Kranken, die Älteren, die Ärmeren nehmen diese Möglichkeit kaum wahr. Im Gefolge sammeln sich die "schlechten Risiken" bei bestimmten Krankenkassen, Ärzten, HMO's - die Schere zwischen arm und reich öffnet sich dadurch weiter, spontan ergeben sich Tendenzen zur Mehrklassenmedizin.

Gewiss: Wir brauchen neue Steuerungsformen im Gesundheitswesen, staatlich gut regulierter und verlässlich überwachter Wettbewerb kann - im Verbund mit besserer Aus- und Fortbildung, wirksamen Anreizen zur Qualitätssicherung und neuen Versorgungsformen - ein Instrument unter vielen sein, um Qualität und Kosten im Gesundheitswesen zu verbessern. Für sich genommen aber steht wirtschaftlicher Wettbewerb zwischen Kassen, Ärzten und Spitälern in direktem Widerspruch zum sozialpolitischen Auftrag der Solidarität und der Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen.

Der Autor ist Wirtschafts- und Gesundheitswissenschafter und Professor für Gesundheitspolitik an der TU Berlin.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung