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Nord und Sud
Da kommt ein Mann zur Tür herein, ein Schwerversehrter auf Krücken, groß, hager, ausgezehrt. Er läßt sich mühsam auf den Sessel nieder, zündet mit zittriger Hand eine Zigarette an. Mit verlegenem, nahezu hilflosem Blick wendet er sich an die Anwesenden.
Die Frauen und Männer ringsum wissen nicht recht, wie sie sich verhalten sollen. Sie schauen verwundert, ratlos, betreten. Aber plötzlich horchen sie auf. Das ausgemergelte Habichtsgesicht beginnt zu leben, die tiefliegenden, dunklen Augen sprühen auf, aus den schmalen, trockenen Lippen bricht ein Wortschwall hervor, leidenschaftlich, feurig und doch präzis in der Aussage. Der Mann spricht und spricht, steigert sich in ein nicht mehr endenwollendes politisches Referat, das jeden mitreißt. Und keiner sieht mehr die körperliche Gebrechlichkeit dieses Mannes, sondern ist gebannt von der Macht seines Geistes.
Das ist Silvius Magnago, jener Politiker, der seit zwei Jahrzehnten die Geschicke Südtirols maßgeblich mitbestimmt, seit 1960 Landeshauptmann ist und das Land an Etsch und Eisack durch eine überaus schwierige Periode zu einem hoffnungsvollen Neubeginn führte. Am 5. Februar 1974 wurde Landeshauptmann Doktor Magnago 60 Jahre alt. Silvius Magnago wurde 1914 im damals österreichischen Meran geboren. Sein Vater, ein Mitglied des Apel-lationsgerichts in Trient, war Italiener, die Mutter Vorarlbergerin. Er besuchte das klassische Gymnasium in Bozen und promovierte an der Universität Bologna zum Doktor der Rechte. Den Militärdienst leistete er in Rom und Palermo, wobei er es bis zum Leutnant im ersten Granatieri-Regi-ment brachte.
Die große Kehrtwendung vollzog Magnago nach dem Hitler-Mussolini-Abkommen 1939, das die Aussiedlung der Südtiroler vorsah. Gemeinsam mit der Mutter und gegen den Wülen des Vaters optierte der damals Fünfundzwanzigjährige für Deutschland. Er meldete sich zur deutschen Wehrmacht und ging als Gebirgsjäger an die Ostfront. Als Kompaniechef im Kaukasus verlor er 1943 sein linkes Bein.
Nach Kriegsende fing Silvius Magnago ganz unten an. Nach zwei Jahren Schreibtischarbeit bei der Sparkasse Bozen wagte er den Sprung in die Politik. Schon 1947 errang der unruhige und ehrgeizige Mann mit Hilfe der Südtiroler Volkspartei ein Bozner Gemeinderatsmandat.
Als souveräner Führer von 250.000 Südtirolern hat Silvius Magnago eine beachtliche Erfolgsbilanz aufzuweisen. Seine Größe zeigt sich darin, daß es heute ein Südtirolproblem, das seit 1918 die österreichisch-italienischen Beziehungen vergiftet und mitten in Europa einen gefährlichen Unruheherd geschaffen hat, praktisch nicht mehr gibt. Dieser Deutschtumsführer mit dem italienischen Namen brachte das Kunststück zustande, die mimosenhaft empfindlichen schlauen Italiener und die sturen mißtrauischen Tiroler zu einem für beide Teile akzeptablen und letztlich vorteilhaften Kompromiß zu leiten. Dabei mußte Magnago auch sich selbst überwinden. In den beginnenden sechziger . Jahren noch zu den Radikalen gerechnet, drängte er wenige Jahre später seine Landsleute zum Ausgleich mit Rom. Und heute gibt es nur mehr wenige, die angesichts der hoffnungsvollen Entwicklung seit der Annahme des „Pakets“ noch an der Richtigkeit dieser Handlungsweise zweifeln. Magnago ist ein Meister in der Kunst des Möglichen und ein bravouröser Unterhändler, der selbst um einen Beistrich, den er für wichtig hält, leidenschaftlich streiten kann.
Magnago ist wahrscheinlich auch der einzige Südtiroler Politiker, der in so hohem Maße die Mentalitäten von Süd und Nord in sich vereint.
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