"Im Krieg sind alle gläubig"

19451960198020002020

Wie der Krieg in der Ostukraine tiefe Gräben zwischen den religiösen Konfessionen gezogen hat. Eine Reportage aus dem Frontgebiet.

19451960198020002020

Wie der Krieg in der Ostukraine tiefe Gräben zwischen den religiösen Konfessionen gezogen hat. Eine Reportage aus dem Frontgebiet.

Werbung
Werbung
Werbung

Gott hat mir schon drei Mal das Leben gerettet", sagt die Pensionistin Raissa, und erzählt von einem sonnigen Sommertag, als sie mit ihrer Freundin ein Minenfeld durchschritt. Von der Granate, die auf ihr Haus niederging. Vom Schusswechsel auf der Straße, der sie unverletzt ließ. Raissa tritt vom Rednerpult zurück, die Lautsprecher knacken, die Musik beginnt. Die Frauen und Männer in den ersten Reihen heben ihre Hände, schließen die Augen, wiegen sich im Takt. "Wir werden singen, singen, singen, mit Dank in unserem Herzen. Für Jesus Christus!"

Marjinka, eine Kleinstadt in der Ostukraine. Jeden Samstagvormittag erlebt der Raum im Oberstock des ehemaligen Großmarkts eine Verwandlung. Wenn die Sitzreihen auf den kalten Beton geschoben, das Mischpult und das Keyboard aufgebaut werden und sich die fünf Sängerinnen vor dem Kreuz in Stellung bringen. Dann feiert die evangelikale Kirche "Verklärung des Herrn" ihren Gottesdienst. Die Fenster sind mit Spanplatten verriegelt, der Boden mit Einschusslöchern übersäht. Seit der Krieg in der Ostukraine ausgebrochen ist, liegt die Stadt direkt an der Frontlinie. Einmal wurde sie von den pro-russischen Separatisten kontrolliert, dann wieder von den ukrainischen Truppen zurückerobert.

Religionsfreiheit und Knechtschaft

Mit dem Kriegsausbruch ist auch für die Gläubigen in der Ostukraine kein Stein auf dem anderen geblieben. Während die selbstproklamierte "Donezker Volksrepublik" die russisch-orthodoxe Kirche als "Grundpfeiler" in ihrer Verfassung festgeschrieben hat, wurden die evangelikalen Kirchen und Protestanten als amerikanische Spione geschmäht und unterdrückt. Viele der Gläubigen sind aus den Separatistengebieten in die ukrainisch-kontrollierten Gebiete geflohen.

Pastor Sergej Kosjak ist selbst ein Beispiel für diese Flucht. Die Separatisten hatten den geschäftigen Mann von etwa 40 Jahren im Sommer 2014 fest genommen und gefoltert, weil er in Donezk einen Gebetsmarathon für alle Konfessionen und gegen die Abspaltung des Donbass von der Ukraine veranstaltet hatte. Er floh auf die andere Seite der Front. In Marjinka, "wo die Not am größten ist", wie er heute sagt, hat er vor einem Jahr das christliche Zentrum aufgebaut. Hier, vormals der Großmarkt der Stadt, verteilen sie Brot an Pensionisten, halten Kurse für "christliche Frauen" und geben Essen an Bedürftige aus. Alle Fabriken in Marjinka wurden zerstört, es gibt praktisch keine Arbeit mehr. Die rund 5000 Menschen, die heute noch in der ehemaligen 10.000-Einwohner-Stadt leben, sind auf humanitäre Hilfslieferungen angewiesen.

Der Krieg rückt wieder näher in diesen Tagen. Pro-russische Separatisten und ukrainische Truppen liefern einander vor allem nachts Gefechte, wenn die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in ihre Basen zurückgekehrt sind. Seit neuestem gehen nun auch wieder tagsüber über der Stadt Granaten nieder. Die Musik hört auf, das Keyboard verstummt. Draußen kracht es. In den Sitzreihen klingeln einige Mobiltelefone. "Ja ja, alles in Ordnung", sprechen einige Frauen eilig in ihr Handy.

Nach dem Gottesdienst werden Kekse und Tee gereicht. Oksana und Slawik, ein Paar mittleren Alters, sind schon seit Beginn Mitglieder der Kirchengemeinde. "Als die Bomben niedergingen, haben sie natürlich alle angefangen, Gott anzurufen!" sagt Slawik. "Im Krieg sind alle gläubig", sagt Oleg Tkatschenko, ein Pastor aus der Nachbarstadt Slawjansk. Während die Freikirchenanhänger aus dem Separatistengebiet geflohen sind, haben sie ihre Aktivitäten auf die Frontgebiete konzentriert. Inzwischen wurden dort bereits mehr als 200 junge Menschen als Missionare für die ukrainischkontrollierten Frontgebiete ausgebildet.

Missionarische Flüchtlingshelfer

Überhaupt haben die Evangelikalen im Krieg eine besondere Rolle gespielt. Die Kirchenvertreter, selbst Opfer von Verfolgung, haben geholfen, viele Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet in das ukrainische Hinterland zu evakuieren und Flüchtlingslager aufzubauen. Auch internationale Institutionen wie die tschechische Hilfsorganisation "People in need" haben sich an Kirchenvertreter gewandt, weil die lokalen Strukturen infolge des politischen Chaos schlichtweg zusammen gebrochen waren. Die Evangelikalen sind zudem traditionell stark im Donbass vertreten (s. Story rechts).

Etwa 100 Kilometer weiter östlich, im prorussischen Separatistengebiet: In der Kleinstadt Tores halten die Kosaken feierlich ihre Mützen mit der linken Hand umklammert. Heute ist Mariä Schutz und Fürbitte, ein hoher orthodoxer Feiertag. Die Männer haben ihre Camouflage-Uniformen angezogen, die Orden auf der Brust blitzen: Abzeichen "für die Verteidigung von Neurussland", oder für den "Aufstand des Donbass".

Der Nebel liegt schwer auf der Industriestadt, die bis heute nach dem früheren Vorsitzenden der französischen Kommunisten Maurice Thorez benannt ist. Auf dem Kirchenvorplatz haben sich einige Dutzend Männer versammelt, um den Kosakeneid abzulegen. Nach einem Gebet und dem Schwur vor dem Priester, die "Heimat bis zum letzten Tropfen Blut" zu verteidigen, nimmt ein Mann mit buschigem Bart und bunter Tracht den 47 Männern den Eid ab: "Ehre die Alten! Beleidige nicht die Jungen! Führe das Kosakenwort weiter!"

Am Ende werden die Kosaken Urkunden erhalten, mit ihrer blau-gelb-roten Flagge und jener der "Donezker Volksrepublik" sowie dem Treueschwur der Don-Kosaken, "im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes." Das Kosakentum, das sich ab dem 17. Jahrhundert als Gemeinschaft freier Reiterverbände in der Ukraine und Russland formierte, ist heute weniger eine Frage der Abstammung, als die einer Gesinnung.

Die meisten Männer hier haben schon an der Front gegen die Ukrainer gekämpft. "Wir haben uns dem Aufstand angeschlossen, weil wir die europäischen Werte nicht brauchen", erklärt der 40-jährige Iwan. Gegen das "Gayropa", in dem die konservativen Werte von Familie und Heimat nicht mehr zählen würden. "Ein Kosake ohne

Glauben ist kein Kosake!" setzt Iwan hinzu. Im Auto baumelt ein Duftbaum mit dem Heiligen Nikolaj gleich neben einem Bild des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Heute schicken die Kosaken von Tores ihre Leute auch zu den neu geschaffenen Feiertagen der so genannten "Donezker Volksrepublik", um wie zuletzt beim 11. Mai, dem Tag des Referendums, mitzumarschieren.

Die russisch-orthodoxe Kirche hat in der Ideologie der Separatisten immer eine besondere Rolle gespielt. Vor allem Igor Girkin (Kampname: "Strelkow"), ein russischer Staatsbürger und nach eigenen Aussagen ehemaliger Agent, der die Separatisten der ersten Stunde anführte, bezeichnete sich selbst als Führer einer "russisch-orthodoxen Armee im Dienste Gottes und des russischen Volkes." Girkin werden schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen, er lebt inzwischen wieder in Moskau. Auch heute hat er einen Vertreter geschickt, um den Kosaken den Orden "Noworossija" (zu deutsch: Neurussland) zu verleihen.

"Wir halten Patriotismus und Glauben hoch!" sagt der 18-jährige Sascha, der etwas zappelig abseits steht und auch heute den Eid ablegt. Dass viele der älteren Kosaken schon im Krieg gegen die Ukrainer gekämpft haben, macht ihn stolz. "Sie haben uns vor der ukrainischen Armee beschützt", sagt Sascha. "Wir sind gegen den Krieg und ein friedliches Volk. Aber wenn wir gezwungen werden, dann werden auch wir kämpfen!"

Demnächst ist eine Reise der Jungkosaken nach Donezk zu einem Überlebenstraining geplant, nächstes Jahr werden sie wieder zu einem Wettbewerb für Kriegsspiele nach Moskau fahren. "Im Gegensatz zu den Ukrainern können wir ein Maschinengewehr in den Händen halten!" wirft Wanja, ein Kollege von Sascha, ein.

Zurück in Marjinka, auf der ukrainischen Seite der Front. Mit Waffen ging auch Pastor Sergej Kosjak schon auf Tuchfühlung - wenngleich auf andere Art und Weise. Vier Kugeln hat sein grauer Mercedes-Bus, mit dem er Brot an Bedürftige in der so genannten "grauen Zone" austeilt, dem unmittelbaren Frontbereich, schon abbekommen. Kosjak deutet die Dinge dennoch auf seine Weise. "Früher hat es hier ein normales Leben gegeben", sagt Kosjak über Marjinka, "heute trifft man sich hier mit Gott."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung