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Wilson: Gegen den Strom

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Vor wenigen Wochen wachten die Engländer auf und sahen sich einer innenpolitischen Überraschung gegenüber. In den Grafschaftswahlen erzielten die Konservativen einen Erfolg, der zwar erwartet worden war, aber nicht in diesem Ausmaß. Die Arbeiterpartei verlor ihre Mehrheit in den Grafschaften Derby und West-Yorkshire an die Tories, wobei sie mehr als 15 Prozentpunkte ihres Stimmenanteiles einbüßten. In Kent, Essex und Surrey waren die Verluste der Regierungspartei noch größer: In Kent verlor sie 11 von 13 Mandaten, in Essex 16 von 29 und in Surrey sechs von neun Mandaten. In dem hochindustrialisierten Lancashire im Nordwesten Englands, wo die Sozialisten traditionell die Lokalbehörden politisch beherrschen, verringerte sich ihr Stimmenanteil um 12 bis 14 Prozent. Wenn man hypothetisch diesen Meinungsumschwung einer Parlamentswahl zu-grundelegte, hätte Wilson seine Mehrheit im Unterhaus eingebüßt, ja nicht nur das, der konservative Parteiführer Edward Heath könnte über die solide Mehrheit von 250 bis 350 Mandaten verfügen.

Der konservative Gewinn wäre sogar größer, würde man die Ergebnisse in Groß-London zur Richtschnur nehmen. Denn hier erhöhte sich die Zahl der konservativen Sitze von 36 auf 82, wogegen jene der sozialistischen von 64 auf 18 schrumpfte. Insgesamt gelang es der Regierungspartei bloß in drei Grafschaften, ihre Mehrheiten zu retten; in 58 Grafschaften kontrollieren für die nächsten drei Jahre die Tories die lokalen Ereignisse.

So sehr diese Ergebnisse von einem Teil der britischen Presse als Sensation empfunden werden, so unrichtig wären jetzt vorschnelle Schlüsse. Zunächst einmal muß man nach der Kompetenz dieser Grafschaften in der Verwaltung fragen. Nun, zu einem großen Teil sind sie ein Überbleibsel der Vergangenheit, da heute die Gemeinde, oder in den Großstädten die Stadtbezirke, die Kerne der Lokalverwaltung darstellen. Tatsächlich untersucht eine der berühmten, unabhängigen „Royal Commissions“ unter diem Vorsitz Lord Mauds die verschiedenen Möglichkeiten einer Reform des gesamten Systems der Lakalverwal-tung in England. Es ist durchaus möglich, daß die Kommission der Regierung vorschlagen wird, die Grafschaften im Hinblick auf eine Rationalisierung abzuschaffen.

Die Kompetenzfrage und die Spekulation über die Zukunft der Grafschaften ist allerdings nur eine Nebenfrage im Sandkastenspiel der Politiker. Zwei Fragen bewegen sie stärker: Inwieweit werden die Konservativen ihre Wahlversprechen verwirklichen, und in welchem Maße wird die Niederlage der Regierungspartei auf die Politik des Kabinette Wilson zurückstrahlen?

In fast allen Grafschaften, vor allem aber in Groß-London, stellten die Tories eine Änderung der Erziehungspolitik und der Wohnungspolitik in Aussicht. Bekanntlich hat sich die Regierung Wilson auf die Durchführung des sozialistischen Brziehungsprogrammes festgelegt, wonach es künftig nur mehr sogenannte „Comprehensive Schools“ geben wird, aber keine Gymnasien oder andere höhere Schulen, deren Besuch den Erfolg bei einer Aufnahmeprüfung voraussetzt. Diese „Einheitsschule“ begründet man wie bei uns in Österreich...!

Nun mag dieses Programm aus verschiedenen Gründen wünschenswert sein, es hat nur einen Fehler, es berücksichtigte nicht menschliche Reaktionen. Das Erziehungspro-gramni der Arbeiterpartei ist höchst unpopulär, dies weiß aim besten Erziehungsminister Crosland, der deshalb auch überaus vorsichtig vorgeht. Es ist nämlich nicht etwa nur vorübergehend unpopulär, das Programm scheint zu übersehen, daß ja auch der Arbeiter stolz ist, wenn sein Kind in ein Gymnasium geht; denn dies hebt ihn wenigstens etwas aus Beiner Umgebung heraus. Wenn alle Kinder in eine Einheitsschule gehen, geht dieses Gefühl des Auserwählt-seins verloren.

In der Wohnungspolitik hatten die Konservativen ihren zugkräftigsteh Wahlschlager. Sie versprachen nämlich, daß sie den Mietern von grafschaftseigenen Reihenhäusern die Möglichkeit bieten werden, ihre Häuser zu kaufen. In Birmingham, wo die Konservativen vor einiger Zeit die Mehrheit im Gemeinderat erobert hatten, verfolgten sie den gleichen Kurs mit dem Ergebnis, daß zahlreiche Mieter zu Eigentümern geworden sind. Unabhängige Fachleute zweifeln an dem Sinn dieser Verkäufe, da sie an die Notwendigkeit erinnern, auch künftig Menschen, die im Schlagschatten des wirtschaftlichen Wachstums leben, Wohnraum zu erträglichen finanziellen Bedingungen zur Verfügung stellen zu müssen.

In Groß-London schließlich dachten sich die Wahlstrategen eine zusätzliche Zugnummer aus. Sie wollen das Amt eines „Verkehrssuperlords“ schauen, der ähnlich einem Lastverteiler in der Elektrizität s-wirtschaft für den gesamten Verkehr Groß-Londons zuständig sein und künftige Verkehrsstauungen verhindern soll. Wie es geschehen soll, darüber stand allerdings nichts in den Wahlaufrufen.

In interessierten Kreisen und natürlich in den Zeitungen erörtert man eifrig die Folgen der sozialistischen Niederlage. Zunächst einmal erwartet man ein ähnliches Ergebnis In den Gemeinderatswahlen vom 11. Mai 1967. Ferner erhoffen sich die Linkssozialisten ein Ende der Einkommenspolitik wie überhaupt eine Abkehr vom deflationistischen Kurs der Wirtschaftspolitik; den Konservativen nahestehenden Gruppen befürchten gerade dies.

Der Premierminister zögerte nicht, der Öffentlichkeit mitzuteilen, daß er keineswegs daran denke, wegen einer vorübergehenden Unpopulard-tät sein langfristiges Ziel, eine ausgeglichene Zahlungsbilanz und ein spürbares Produktivitätswachstum, auch nur einen Moment aulzugeben. Denn über eines ist man sich einig: Die Sozialisten verloren die Grafschaftswahlen nicht aus lokalen Gründen, sie verloren, weil die gegenwärtige Wirtschaftspolitik unpopulär ist. Niemand sieht sein Realeinkommen gerne schrumpfen; diese Wirkung zeitigt aber die Deflation.

Gewiß, Harold Wilson bestimmt nicht allein den Regierungskurs. Die Kritik der Gewerkschaften, der Linksintellektuellen wird in den nächsten Monaten an Schärfe zunehmen. Und irgendeinen Preis wird der Premierminister möglicherweise zahlen müssen, damit die Mehrheit der Partei ihn weiterhin stützt. Von diesem Gesichtspunkt wird man wohl auch die Umkehr in der Ver-teidi'gungspolitik der Regierung sehen müssen, die bereits letzte Woche durchsickern ließ, daß sie ihr militärisches Engagement im Fernen Osten gewaltig reduzieren werde. Damit kann man die linke Parteiopposition beruhigen und erntet gleichzeitig den Vorteil von spürbaren Devisenersparnissen. Außerdem paßt die Regierung ihre Commonwealthpolitik der Realität an, die für die ältere Generation zwar bitter, aber leider wahr ist: das Commonwealth löst sich allmählich auf.

Harold Wilson saß 13 Jahre lang als Abgesandter im Unterbaus und hatte genügend Muße, Zeitgeschichte

zu studieren. Er weiß, daß Lokalwahlen mit den Parlamentswahlen nicht gleichgesetzt werden dürfen, er weiß von der Gefahr, die einer Regierung droht, die nervös wird und sich in Effekthascherei verliert. Er hat eindeutig der mittel- und langfristigen Arbeit den Vorzug eingeräumt. Wird er sich damit in seiner Partei durchsetzen?

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