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Das andere Stalingrad

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Heimkehrerzüge aus dem Osten haben nunmehr auch größere Gruppen von österreichischen Kriegsgefangenen aus Riga gebracht. Damit hebt sich der Vorhang eines Dramas, das in seiner Voraussetzung und in seinen Ausmaßen in vielem an Stalingrad gemahnt: der Untergang der Armeen im „Kessel Kurland“.

Die Voraussetzung für die Bildung des Kessels Kurland bildete die Zurücknahme der Front des Nordabschnittes an den Ostrand von Estland im Spätwinter des Jahres 1944 und der Einsturz der Mittelfront im Hochsommer des gleichen Jahres. Es bildete sich in der Folge, im Herbst 1944, ein „neuer Nordabschnitt“, dessen östlicher und südwestlicher Eckpfeiler, Mitau und Schauten, im Spätherbst 1944 unter dem wuchtigen Ansturm der russischen Stoßarmeen ins Wanken gerieten. Mitte Oktober trat die Katastrophe ein. Ein westlicher Durchstoß der Russen erreichte im Rücken der deutschen Baltikumarmeen die Küste und schnitt sie für immer von der Landverbindung ab. Von vagen Hoffnungen auf eine mögliche Entsetzung oder Ausschiffung genährt, eine Zeitlang noch durch verlustreichen Seenachschub im . Norden über die Ostseehäfen Libau und Windau mit Orden, Kekspäckchen und sorgenerfüllter Heimatpost versehen, kämpften sich die im Stiche gelassenen Soldaten unter empfindlichem Mangel an schweren Waffen und Munition in sechs opferreichen Kurlandschlachten gegen erdrückende Übermacht des Gegners schrittweise mit dem Mute der Verlorenen durch die Wälder und Sümpfe von Litauen und Lettland gegen Norden zurück und mußten mit wachsender Verbitterung erleben, wie die beiden Häfen im Norden stiller und stiller wurden, ohne zuletzt mehr nennenswerten Nachschub, geschweige denn die rettenden Ersatzschiffe zu bringen. Auch die deutschen Riesenarmeen hinter ihnen wurden keineswegs zu dem ersehnten Aufbrechen angesetzt, sondern in den ersten Monaten des Jahres 1945 gleich ihnen selbst sinnlos geopfert. Immer enger schloß sich von da an der Ring um die beiden Häfen — es ließ sich am Kalender errechnen, wann die letzten Bataillone überrannt oder ins Meer geworfen würden. So gehörten die letzten Monate dieses Verzweiflungskampfes auf verlorenem Posten einer allgemeinen Stimmung der Ausweglosigkeit. Am Morgen des 8. Mai 1945 lagen die Linien der deutschen Südfront in Llftuen unter dem schweren Feuer der russischen Geschütze, Serienwerfer und Scblachtflieger, das die 7. Kurlandschlacht einleiten sollte, doch blieb den hunderttausenden Soldaten wenigstens in diesem einen Punkte die volle Tragik von Stalingrad erspart: um 14 Uhr wurde der deutsche Widerstand eingestellt. 17- bis 60jährige, Verwundete und Frauen der Hilfsformationen, wanderten in die Lager des Ostens, um dort, nur zum Teil im Baltikum selbst, jahrelang in schwerer körperlicher Arbeit auf zerstörten Baustellen und in Fabriken, das Los der Gefangenen zu tragen. Tausende von ihnen haben sich, zum Teil durch die schlechten Postverbindungen der letzten Kampfmonate und in Gefangenschaft, seit Jahren nicht mehr ihren Angehörigen gegenüber gemeldet. Viele davon mag schon der Rasen decken, manche werden noch wiederkehren — lebendige Zeugen einer schuldhaften und verirrten Zeit, Fahnenträger einer anderen, besseren, neuen. Auch hier eine Schicksalsverwandtschaft zu den tragisch Geopferten von Stalingrad. Ihre Geschichte hat Plivier geschrieben. Die Tragödie des Kessels Kurland harrt noch des berufenen Chronisten.

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