Die Aktie als abgeschnittener Baum

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Beobachtungen zu Schriftzeichen führen zu kulturkritischen Befunden über den Zustand der Zivilisation in Peter Simon Altmanns Erzählung "Der Zeichenfänger".

"Der Zeichenfänger", so nennt der 1968 in Salzburg geborenen Peter Simon Altmann seinen ersten Roman, den er bescheiden "Erzählung" nennt. Wie der Autor ist der Ich-Erzähler gelernter Japanologe, sein Spezialgebiet ist die Etymologie chinesischer Schriftzeichen in der japanischen Sprache. Aktuell hat er einen befristeten Assistentenvertrag in Wien, dann wird er sich, den Gesetzen des universitären Wanderzirkus folgend, in einer anderen Stadt eine Stelle suchen müssen.

Neue Bedeutungen

Ruhelos und einsam durchstreift der junge Semiotiker die Wiener Stadtlandschaften und ihre Grüngürtel in konzentrischen Kreisen rund um seinen Wohnbezirk Währing. Als Ostasienexperte und Zeichenforscher nimmt er vieles anders wahr und liest in Alltäglichkeiten andere Bedeutungen hinein. Daraus entstehen oft neue Relationen, so wie zwei chinesische Schriftzeichen übereinander geblendet keine Addition ergeben, sondern einen neuen Begriff. "Vertrauen, Glauben" etwa besteht aus den Zeichen für "Mensch" und für "sagen", also hat "man früher den Worten eines Menschen Vertrauen schenken, glauben können?"

Fortwährend überblendet er das, was er sieht und beobachtet, mit den zugehörigen chinesischen Schriftzeichen, die zu den Wurzeln der Wörter und Dinge hinführen oder neue, andere Begriffsfelder eröffnen. Solcherart sieht er mehr als ein normaler Spaziergänger. Das betrifft nicht nur die Spuren ostasiatischer Lebenswelten. Ein wie immer hierher geratener japanischer Müllcontainer entgeht ihm genauso wenig wie japanische Pflanzen in Wiener Parkanlagen. Gezielt sucht er alle Schnur-, Kuchen- oder Zürgelbäume zur Blütezeit auf - ein Schößling verbunden mit dem Sonnensymbol ist das chinesische Zeichen für Frühling -, nimmt weite Wege auf sich, um eine reife Mandel zu pflücken und hat die Landkarte aller Wiener Paulowinien, auch Blauglocken- oder Kaiserbaum, japanisch Kiri, im Kopf; über deren literarhistorische Bedeutung im Dialog zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann scheint er allerdings nichts zu wissen.

Die Überblendung der beiden Kulturen im Medium der chinesischen Schriftzeichen ist so, wie Altmann sie handhabt, erstaunlich fruchtbar für kulturkritische Befunde über den Zustand der Zivilisation, in der sich der einsame junge Mann nicht beheimatet fühlt. Er verfügt kaum über Sozialkontakte, beobachtet wie weiland Doderers Amtsrat Zihal die nächtlichen Fenster gegenüber, versucht halbherzig über einschlägige Chatrooms Frauenbekanntschaften zu machen, besucht hin und wieder ebenso einschlägige asiatische Massageclubs und spürt in sich zunehmende Aggressionen gegen die Kälte und Hermetik seiner Umwelt. Den Anfang macht eine "schallende Ohrfeige", die er einem älteren Mann verpasst, der ihm beim Gedrängel in der S-Bahn ein aggressives "blödes Arschloch" entgegenschleudert. Die ruhig applizierte Ohrfeige stellt gewissermaßen die Würde dieser unwürdigen Situation wieder her, und das macht letztlich auch der Stein, den er wenig später wohl gezielt einem Mann an den Kopf wirft, der eine junge Asiatin ordinär angepöbelt hat. Die Ordnung ist wieder hergestellt, aber gleichzeitig die innere Ruhe des einsamen Wanderers gestört, Mord stand nicht am Programm.

Leise Kommentare

Doch diese Handlungsfäden sind gleichsam nur in den Text hineingewoben, der von den leisen Kommentaren zum ganz normalen westlichen Großstadtalltag lebt. Manches wird gleichsam unkommentiert mitgeteilt: Etwa, dass ein ausgewachsener Baum traditionell "angemessener Wert" bedeutet, ein abgeschnittener Baum heute nur mehr "Aktie". Der Leser kann sich seine eigenen Gedanken machen und auch neue Fragestellungen finden. Was bedeutet es zum Beispiel für eine Kultur, ob das Piktogramm für Fluss mit zwei waagrechten Wellenlinien dargestellt wird oder, wie im Chinesischen, mit einer senkrechten Wellenlinie, flankiert von zwei Strichen? Wird hier das Ufer mitgedacht und die Fließrichtung des Wassers angezeigt, geht das europäische Symbol von der Eigenschaft des Flusses als Hindernis aus, das überquert sein will. So verhalten wie solche unausgesprochenen Fragestellungen ist auch die Sprache des Buches, die mit dem maßvollen Einbau aufgebrochener Satzfragmente im Textfluss grammatikalische Signale der Verstörung setzt.

Der Zeichenfänger

Erzählung von Peter Simon Altmann

Otto Müller Verlag, Salzburg 2006

168 Seiten, geb., e 19,-

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