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Kann man das beschreiben?

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Nach dem Verstummen Frau Harichs hörten die beiden das Säuseln, das stetige Pfauchen und Heulen des nun spätnachmittags aufgekommenen Westwinds. An den Fenstervorsprüngen, den Antennenträgern, den Turmkanten entwickelten sich unablässig vielfach verschlungen, an- und abschwellende, aufsteigende und plötzlich abreißende, halblaute Dauertöne. Zwigott empfand diese nach der drängenden Stimme seiner Kollegin als erholsam. Ein mächtiger, aufgelockert fliegender Vogelschwarm umkurvte das Gebäude, ließ sich von den Mauern teilen, ganze Vogelketten drehten seitlich ab, einzelne stießen in die Höhe, drehten im Sturzflug zurück; in weiter Fächerung strebten die Flugtiere hinter Zwi-gotts Siloturm wieder zueinander; die flatternde Schar fand, westwärts streichend, gegen die letzte Helligkeit über Wien, zu neuen, wieder dichteren Gruppierungen.

Ich habe keinen poetischen, sondern — wenn überhaupt — einen moralischen Ansatz, sagte jetzt Zwigott. Mich beschäftigt unentwegt die ökonomische Organisationsfrage. Vielleicht eine Kraftvergeudung - aber ich lasse die Welt trotz allem nicht los. Ich wollte ständig augenscheinliche Mißverständnisse auflösen, die falschen Abläufe durch eigenen Einsatz, gestalterische Vorschläge stoppen. Dabei gewann ich einen Ordnungssinn, der freilich auf die herrschenden Verhältnisse nicht anwendbar war. Und jetzt noch, während ich Ihnen das sage, Frau Harich, glaube ich schon wieder, daß diese Einsicht für die Täter und ihr ungeknicktes Selbstbewußtsein nützlich wäre. Aber solche erklärte Absicht ist in Ihrer Kunst ja verboten.

Doch nicht, wenn Ihre persönliche Geschichte dieses Anliegens der Stoff selbst ist, rief die Harich dazwischen.

Ich habe meine Aufgabe immer darin gesehen, wehrte Zwigott wieder ab, daß Wohnhäuser fest gebaut sind, Einnahmen und Ausgaben zueinander stimmen, Gasleitungen nicht platzen, Kinder nicht er frieren^ redliche Arbeiter, Sparer, nicht betrogen werden. Nie konnte ich einen inneren Ort ausmachen, von dem aus ich schreiben konnte, schreiben sollte. Hundertfältige Aufforderungen, selbst Hand anzulegen, augenfällige Unglücksursachen, offensichtliche Mißweisungen ziehen meinen Einsatz an, fordern meine Zuwendung. Mit welchem Recht - Sie sehen den unwillkürlichen Moralisten, Frau Kollegin — wende ich mich von ausgestreckten Fingern ab, von ängstlichen, unbetreuten Einsamen, um hinter einem Schreibtisch zu sein?

Aber Sie haben die Stummen vergessen, wehrte sich nun die Harich, die Sprachlosen, Hoffnungslosen, weil ohne Verständnis für sich selbst und die Welt. Und auch wenn diese Ärmsten selbst gar nicht lesen, so leben sie doch unter Gesetzen, die von Lesenden geschaffen werden, sie richten sich nach Vorbildern, nach Verhaltensmustern von Lesenden. Insofern helfen sie immer auch den Bedürftigen, wenn Sie...

Ja, wenn Sie was? rief Zwigott zurück, eine poetische Fiktion ausdenken? Und den Zufallsgenerator nach dem Gegenteil fragen lassen? Mich ekelt vor der Abwegigkeit willkürlicher, phantastischer Uberformung des Vordergründigen, Naheliegenden, Eindeutigen. Ich suche materielle Reformen, Strukturverbesserungen. Meinetwegen Evolution oder auch Revolution, aber ich mißtraue privaten subjektiven Ge-genstrukturen oder Antistrukturen.

Sie irren, Herr Betriebswirtschaftsprofessor, erwiderte Frau Harich, zwar immer noch verbindlich, doch auch ärgerlich: so unmittelbar, wahrhaftig, zerrissen, begnadet, verfehlt, gesichert, verloren, banal und poetisch, wie die Alltagsminute es eben ist, werden die Texte aller Mitwirkenden von unserem Programm erfaßt. Pointillistische Lyrismen ebenso wie analytische Daten, subjektive Momente wie breite Erzählungen — die einander auf der Drehscheibe Marchfeld begegnen und befruchten.

Und ich wiederhole, bellte Zwigott jetzt zornig, daß ich es verabscheue, mich zum Schreiben von Kunstprosa verstellen zu müssen, irgendeine affektierte Pose einnehmen zu sollen, eine Rolle und eine Fiktion auszudenken.

Harich korrigierte: Nicht nur eine Novelle ist eine Fiktion, sondern jede Stellungnahme ankert im Fiktiven, die Wahl jedes Blickwinkels ist willkürlich, insofern ihr das Bevorzugen oder Zurückdrängen bestimmter Bezüge vorausgeht. Der moralische Kampf des Schreibenden entscheidet sich nicht zwischen fiction oder non-fiction, sondern er entfacht sich entlang der dünnen Bruchlinien zwischen Reiz oder Wahrheit, Wirkung oder Gerechtigkeit, Schock oder Behutsamkeit, Propaganda oder Redlichkeit. Unser Prosaideal lautet Klarheit, zugleich mächtig und schlank, groß und scharf, ein Erinnerungs- und Verständnisgeflecht vor dem unheilvollen Abgrund der Blindheit — sinnstiftend eben...

Frau Harich lehnte die Aufforderung Zwigotts ab, sich auf den einzigen Sessel des Zimmers zu setzen. Sie blieb gegen die westliche Glaswand gelehnt. Von der Unmöglichkeit, sich der Wirklichkeit beschreibend auch nur anzunähern, redete Zwigott jetzt weiter, er könne zwar die Astronomie, die Relativitätstheorie, die Fluchtgeschwindigkeit des Sonnensystems, gemessen an fremden Galaxien, verstehen — aber zuletzt scheitere er an der Beschreibung auch nur einer einzigen seiner fast täglichen Fahrten mit der Schnellbahn vom Wiener Praterstern nach Gänserndorf: keine Redegewandtheit sei den unauslotbaren Geheimnissen seir ner Mitreisenden gewachsen, kein Wortschatz gäbe die seelischen und Gehirnvorgänge des Zugsführers wieder, deren Zusammenhänge und Herleitung von Elternhaus, Kindheitseindrücken, Berufslauf, Ehe- und Familiensituation, Tagesverfassung; und gänzlich unbeschreiblich, nicht einmal als Aufgabe darstellbar, seien erst die Verknüpfungen und Vernetzungen der sinnlichen Wahrnehmungen, seelischen Spiegelungen aller Teilnehmer dieser Reise durch die Marchfeldlandschaft, die Wirklichkeiten der dahingleitenden Menschen und auch der sie von außen Beobachtenden, der Reisenden und der Bewohner dem Bahndamm anliegender Ortschaften - Süßenbrunn, Aderklaa, Wagram, Strass-hof - mit deren je eigener Geschichte, so simultan, komplex, subjektiv real, wie man sich und anderen die ganze Wahrheit vorstellen müsse: unabsehbar sei hiefür das richtige Wort. Sein von vielfacher Brechung durch vorgeschobene, eingepreßte Linsen geprägter Sehschlitz berechtige zu keiner allgemeinen Aussage.

Die Harich hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört. Sie stand immer noch gegen die Aussichtsscheibe gelehnt, allmählich dunkelte der Herbstsamstag sich ein. Das richtige Wort, das war soeben ihre letzte Formulierung, Herr Zwigott — und nach langer Pause —: das genügt!

Zwigott hatte sich nach Harichs Ablehnung selbst in den Sessel geworfen. Jetzt sprang er auf: selbst ein vollendetes Wortkunstwerk bliebe unwirksam! Es wäre ein nur in sich selbst vollkommenes Bedeutungsgefüge, das umso weniger in Beziehung zur amorphen, agrammatischen, unstrukturierten Welt träte! Meine Berufserfahrungen in der Industrie, meine Menschenkenntnis, mein Weltverständnis, meine Lebenszwischenbilanz sind nicht verbal darstellbar. Schon die Wörter sind irreführend. Hierin unterscheide ich mich gewiß nicht von allen anderen. Jeder Mensch nimmt diese entsetzliche Blendung und Knebelung als Geheimnis ins Grab mit: das Gewicht des Sonnenstrahls auf seinem Gesicht, des glühenden Eisenkerns in der Brust, des kochenden Bleis im Kopf und der stählernen Ver-schraubung um Zunge und Kehle.

Frau Harich war nun anzumerken, daß sie der von ihr ausgelösten Ernsthaftigkeit ihres Gesprächspartners mit zunehmendem Respekt gegenüberstand. Die tiefe Verbindlichkeit, Verpflich-tetheit ihres Lehrerkollegen überstieg ihre bislang mit diesem literarischen Projekt verknüpfte moralische Selbstanforderung. Auch die bereits bekannt werdenden volks- und betriebswirtschaftlichen Vorlesungen des neuen Professors begann sie jetzt mit dem besonderen Hintergrund dieses Mannes aus der Industrie zu sehen.

Aui dem entstehenden Roman „Die Wüstung".

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