kreidekreis.jp - © Foto: © SF/Monika Rittershaus

Was alles Familie sein kann – „Der kaukasische Kreidekreis“

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Eine beeindruckende Inszenierung von den Theater-Experimentierern Rimini Protokoll im Rahmen der Salzburger Festspiele.

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Eine beeindruckende Inszenierung von den Theater-Experimentierern Rimini Protokoll im Rahmen der Salzburger Festspiele.

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Bertolt Brecht, ein politischer Autor? Nicht in Salzburg, wo sein Stück „Der kaukasische Kreidekreis“ vom Team der Theater-Experimentierer Rimini Protokoll im Rahmen der Salzburger Festspiele zusammen mit dem Theater HORA auf die Bühne gestellt wird. Das Besondere daran ist, dass die Last der Aufführung Schauspieler mit kognitiver Beeinträchtigung tragen. Und weil sie nicht nur als Darsteller fungieren, die ausführen, was ihnen die Regisseurin Helgard Haug aufträgt, sondern an der Entwicklung der Stückidee selbst ihren Anteil nehmen, kommt der Hauptszene jede Aufmerksamkeit zu. Sie wird gleich in acht Variationen durchgespielt, um divergierende Möglichkeiten eines Endes zu erproben. Gefühlsangelegenheiten stehen im Vordergrund, nicht die Verhältnisse – so wird Brecht gegen den Strich gebürstet.

Welche Mutter ist die wahre, ist jene Frage, die dem Ensemble unter den Nägeln brennt. Die Fürstin, die ihr leibliches Kind im Stich gelassen hat, um sich und ihren Besitz zu retten, oder die Magd Grusche, die für das Kind sorgt und ihm Liebe zuteilwerden lässt. Bei Brecht ist das eine klare Sache. Anspruch auf das Kind hat, wem es tatsächlich ans Herz gewachsen ist. Um das festzustellen, bedarf es der List des Richters Azdak, eines Mannes aus dem Volke. Wer zieht das Kind aus dem von ihm gezogenen Kreidekreis? Die herzlose Gräfin natürlich, die in Kategorien von Eigentum und Macht denkt. Also wird es Grusche, der Schmerzvermeiderin, zugesprochen. So einfach verhält es sich nicht, kommt in dieser Inszenierung heraus, wenn man dem Kind selbst eine Entscheidung zutraut. Ist es durch Bestechungsversuche verführbar? Die Fürstin verspricht ihm immerhin ein iPad, dagegen hat das Argument der Geborgenheit einen schweren Stand.

Das allgemein Menschliche wird favorisiert. Das Schicksal eines Kindes steht zur Disposition, das bewegt. Etwa in der Mitte der Aufführung bekommt das Publikum ein Büchlein gereicht, in dem die selbsterzählten Lebensläufe der Akteure verzeichnet sind. Sogleich sieht man, dass sich alle über ihre Familie definieren und welchen Platz sie in diesem System einnehmen. Selbstbewusst rücken sie sich ins Bild, einer bekennt, der Lustigste in der Familie zu sein. Diese innere Stärke trägt die Darsteller auf der Bühne. Sie leisten tatsächlich Beachtliches, wenn sie fremde Charaktere zu ihrer eigenen Sache machen und ganz in dieser Rolle aufgehen. Erstaunlich Remo Beuggert, wie sicher er als Sprecher durch das Stück führt und auch noch die Rolle des Richters übernimmt.

Entscheidend für die Dramaturgie die Perkussionistin Minhye Ko, die die rhythmische Vorgabe liefert, an der sich die Darsteller festhalten dürfen. Sie ist sicherer Rückhalt und die dynamische, den Ablauf strukturierende Instanz. Es geht in Ordnung, Brecht nicht alles abzukaufen. Hier werden Fragen gestellt, eine endgültige Antwort gibt es nicht. So ist es nun einmal, unser Leben, eine Reise ins Unwägbare. Dieses Theater macht es uns vor.

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