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Volksfront gegen Interfront
Der Nationalismus hat seine Pranke über die Sowjetunion gelegt. Die Baltenstaaten Estland, Lettland, Litauen sowie die Moldawier (FURCHE 14/89) fordern immer energischer nicht nur sprachliche, kulturelle und wirtschaftliche Eigenständigkeit. Die Völker rühren sich und bestimmen ihre eigene Politik. Und die ist antisowjetisch, nationalistisch.
Die alten Hausherren in Moskau sind zornig. Die Unionsvölker als Eigentümer der Wohnungen im Ostteil des Hauses Europa? Das geht ihnen - offenbar auch Gorbatschow - zu weit. Deshalb droht das Zentralkomitee der KPdSU den „Nationalisten“ und „Separatisten“ im Baltikum.
Mit den Unabhängigkeitsbestrebungen, die von den Volksfronten „Rahvormne“, „Tautas frontes“ und „Sajudis“ immer radikaler vorangetrieben werden, wurden Fixpunkte der sowjetischen Hausordnung verletzt: innere Sicherheit, einheitliche Außenpolitik und gemeinsame Verteidigung.
Die Unionsverträge von 1922 sowie die Verfassung des Jahres 1924 sehen zwar die Mögüchkeit des Austrittes von Teilrepubliken aus der Sowjetunion vor, die stalinistische Praxis hat aber eine ganz andere Situation geschaffen. Jetzt sucht die KPdSU nach einer neuen Nationalitätenpolitik. Zu spät? Unglaubwürdig?
Mit internationalistischen Parolen, geradezu Beschwörungen wird zu retten versucht, was wahrscheinlich schon verloren ist. Die Balten haben nur mehr ihre Unabhängigkeit im Kopf. Das mehr oder weniger klare Eingeständnis Moskaus, der Hitler-Stalin-Pakt habe eine Unrechtssituation geschaffen, ist den nördlichen Teilrepubliken zu wenig, zumal noch immer am „freiwilligen Beitritt“ der Baltenstaaten zur Sowjetunion offiziell festgehalten wird.
Ohne Russen glauben die Balten besser leben zu können. Die relativ starke russische Minderheit im Baltikum ist verängstigt; bildete ihrerseits eine „Interfront“. Historisches Unrecht gebiert neues Unrecht.
Dabei bestehtdoch jetzt die Chance , unseligen Chauvinismus zu überwinden. Der Westen dürfte den baltischen Nationalismus nicht weiter als Sprengsatz der Sowjetunion fördern. Moskau müßte sich scharfe Töne sparen und behutsam agieren. Die größten Opfer werden - wieder einmal - den Opfern der Geschichte, den Balten, abverlangt: ein Name dafür ist Geduld.
Das Bad der Geschichte ist nicht zurückzudrehen. In den vergangenen 50 Jahren haben sich neue Konstellationenherausgebildet, die auch von den Opfern berücksichtigt werden müssen, sollen Konflikte nicht zu Explosionen führen.
Es besser zu machen, dazu besteht jetzt die Gelegenheit! Aber wer denkt schon daran, wenn nach jahrzehntelanger Unterdrückung die Möglichkeit zur Sprengung der Fesseln besteht?
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