Glücksfall Patchwork?

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Die deutsche Journalistin Melanie Mühl deckt in einer ebenso klugen wie pointierten Streitschrift die mediale "Patchwork-Lüge“ auf - und schießt über das Ziel hinaus.

Sie schwirren durch die Fernseh-Krimis und Doku-Soaps. Sie mehren sich unaufhaltsam in Verwandtschaft, Freundes- und Bekanntenkreis. Und mittlerweile zeigen sie sich auch freudestrahlend in Schloss Bellevue, dem Sitz des deutschen Bundespräsidenten. Welch attraktives Patchwork-Paar da heute an der Spitze des deutschen Staates steht: Christian Wulff (CDU), vormals langweiliger Ministerpräsident von Niedersachsen, plötzlich wundersam verjüngt durch seine neue Frau Bettina: groß, blond, sportlich und am Oberarm tätowiert. Beide bringen eigene Kinder in ihre Beziehung mit: Er seine 17-jährige Tochter Annalena, sie ihren sieben Jahre alten Sohn Leander. Als der gemeinsame Sohn Linus geboren wird, ist das Glück der beiden perfekt.

Die Zeitungen jubeln: Bettina Wulff, vormalige Körner, habe als "Lady Lässig“ Deutschland im Allgemeinen und ihrem Mann im Besonderen eine Frischzellenkur verpasst. "Der Mann“, heißt es da, "der Mitte 30 aussah wie der Filialleiter einer örtlichen Sparkasse, hat zehn Jahre später nicht nur eine neue Brille, sondern einen erstaunlichen Glamour-Faktor.“ Ganz anders als in seiner ersten Ehe, über die der Boulevard kaum Prickelndes zu berichten weiß: Die erste Frau Wulff, eine leidenschaftliche Reiterin, habe sich eher bei den Pferden als im Scheinwerferlicht zu Hause gefühlt. Kein Wunder, schwingt im Subtext mit: Da musste ihr Mann doch fliehen.

Patchwork als Glücksversprechen

"Sobald es in den Medien um traditionelle Familien und jahrelange Beziehungen geht, wird man das Gefühl nicht los, in eine beklemmende Welt zu blicken, die uns die Luft abschnürt und uns unserer Freiheit beraubt“, schreibt Melanie Mühl, 35 Jahre junge Feuilleton-Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in ihrer jüngst erschienenen Streitschrift "Die Patchwork-Lüge“. Dagegen werde die neue, bunte Multioptions-Familie als Glücksversprechen gefeiert, "als eine neue Idee von Familie, die nichts Muffiges mehr umgibt, weil sie sich aus allen Zwängen befreit hat.“

Die Verklärung der vermeintlich sonnigen Patchwork-Realität - bei den Wulffs ebenso wie bei Boris Becker oder im Vorabendfernsehprogramm - entfalte freilich ihre Wirkung und hinterlasse Spuren in unserem Bewusstsein, warnt Mühl. Sie bringe "die Philosophie unserer Unverbindlichkeitswelt auf den Punkt, in der wir das Leben auf der Suche nach Glück und Erfüllung auch mal fortspülen lassen wie ein schlecht verankertes Zelt vom Regenguss“.

Der Euphemismus, das Scheitern von Beziehungen als fortschrittlich hinzustellen, beginnt für Mühl bereits beim Namen. Sprach man früher von Stieffamilie, in der nach landläufiger Vorstellung eine missgünstige Stiefmutter ihre fremden Kinder drangsalierte, klingt Patchwork nach bunter Coolness. 1990 ist der Begriff, der im Englischen eher abschätzig "Flickwerk“ bedeutet, erstmals im Zusammenhang mit neu rekonstruierten Familiensystemen aufgetaucht. Erst zehn Jahre später fand er Eingang in den Rechtschreibduden. Heute ist das Wort längst in aller Munde - was angesichts rasant steigender Betroffenheit kaum verwundert: Immerhin 43 Prozent beträgt das Risiko, dass eine heute geschlossene Ehe einmal scheitern wird. Die aktuelle Durchschnittsdauer des einstigen Bundes fürs Leben liegt bei 10,5 Jahren.

Gegen diese Entwicklung, bei der erwachsene Menschen "von einer Versuchsanordnung des Glücks zur nächsten“ eilten, statt Verantwortung zu übernehmen und sich festzulegen, schreibt Melanie Mühl leidenschaftlich an. Die vermeintliche "Patchwork-Lüge“ dient ihr dabei freilich nur als Anlass für eine fundamentale Gesellschaftskritik: Sie geißelt den Jugendwahn ebenso wie die Ökonomisierung der Paarbildung, bei der es nur noch darauf ankomme, "auf dem Partnermarkt das bestmögliche Geschäft abzuschließen“; sie kritisiert die idealisierten Erwartungen an die Liebesheirat ebenso wie den Trend zur Selbstoptimierung, der Kinder oft nur noch als "Optionenvernichter“ verstehe. "Die Liebe, die Ehe ist eine Befriedigungsmaschine“, schreibt Melanie Mühl. Wenn sie nicht mehr funktioniere, wenn die Verliebtheit geschwunden sei und sich Unlust breitmache, werde sie kurzerhand ausgetauscht.

Auf der Strecke blieben die Kinder. Scheidungskinder - in Österreich etwa 20.000 zusätzliche pro Jahr - würden später beinahe doppelt so häufig geschieden wie Nichtscheidungskinder, neigten stärker zu Depressionen und Jugendkriminalität, konsumierten öfter Alkohol und Drogen und hätten eine erhöhte Suizidalität. Komme es zu einer Patchwork-Familie, müssten sie mit ihren neuen Stiefgeschwistern um die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern konkurrieren und verkrampfte Wochenendtreffen mit dem abwesenden Elternteil überstehen, der sie nicht selten verwöhne wie kleine Prinzessinnen und Prinzen. Immerhin zwei Drittel aller Scheidungskinder würden im Laufe ihres Lebens überhaupt den Kontakt zum leiblichen Vater verlieren.

Die unabwendbaren Folgen nach Ansicht Mühls: eine vaterlose Gesellschaft, in der Wohlstandsverwahrlosung, narzisstische Triebäußerungen und neurotische Charaktere zum Normalfall gehören. Kinder, die in unverbindlichen Sozialkonstruktionen aufwachsen - ohne jedes Gefühl für Bindungen, Freundschaft, Liebe und Solidarität. "Für Kinder ist eine Scheidung eine Tragödie“, lautet ihr Resümee. "Nichts ist mehr, wie es einmal war. Das ist ein Schock: Mit ihm verlieren Kinder ihr Urvertrauen. Die Behaustheit bekommt einen Riss, der sich nicht kitten lässt, manches Kind wird sich für immer einsam fühlen. Vielleicht ist das die tiefste Wunde, die die Erfahrung des frühen Verlassenwerdens hinterlässt.“

Die Realität abseits von Schloss Bellevue

Man wird Melanie Mühl in vielen Punkten ihrer klugen und pointierten Streitschrift beipflichten müssen, vor allem in ihrem Plädoyer für ein Leben in Verantwortung und Verbindlichkeit. Natürlich wäre es das Beste, wenn Eltern lebenslang zusammenblieben, wenn sie sich gegenseitig unterstützten, achteten und liebten. Doch was, wenn das einfach nicht möglich ist? Wenn die Beziehung zwar keine von Alkoholismus, Gewalt oder Missbrauch geprägte "Ehehölle“, aber dennoch unerträglich zerrüttet ist? Wer will sich anmaßen, über Einzelfälle zu richten? Wer mag darüber urteilen, ob eine Trennung klug und überlebenswichtig ist - oder die bloße Folge einer größenwahnsinnigen Selbstoptimierungsfantasie?

Ja, es gibt sie, die konfliktreiche Realität abseits der rosaroten Patchwork-Welt, wie sie das deutsche First Couple in Schloss Bellevue zelebriert. Doch genauso existiert eine Realität abseits von Melanie Mühls Schwarzmalerei. Dazu gehört nicht zuletzt die Tatsache, dass nach wie vor nur 9,5 Prozent aller österreichischer Kinder in Patchwork-Familien leben.

Stoff für hitzige Diskussionen bietet die junge, deutsche Journalistin mit ihrem ambitionierten Buch allemal. Mehr kann man von einer guten Streitschrift eigentlich kaum erwarten.

Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift

Von Melanie Mühl

Hanser Verlag, München 2011

171 Seiten, brosch., e 17,40

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