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Die „moderne” Lebensform: Stieffamilie

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Nach dem Jahr 2000 wird nur noch jedes zweite Kind in der Familie aufwachsen, in der es geboren wurde. Die Stieffamilie ist im Kommen.

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Nach dem Jahr 2000 wird nur noch jedes zweite Kind in der Familie aufwachsen, in der es geboren wurde. Die Stieffamilie ist im Kommen.

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Jede dritte Ehe wird geschieden. Tendenz steigend. Das bedeutet: immer mehr Kinder leben nicht bei oder nur bei einem Teil ihrer leiblichen Eltern. „Stief”-Familien und „Stief'-Beziehungen werden immer häufiger. Es gibt Hochrechnungen, nach denen ab dem Jahre 2000 bereits nur noch jedes zweite Kind in seiner Ursprungsfamilie aufwachsen wird. Es ist also kein privates Problem mehr, wie die Verhältnisse zwischen Stiefeltern und Stiefkindern gestaltet und bewältigt werden. Neue Modelle und Orientierungshilfen für Familien sind gefragt.

Beim zweiten Europäischen Fach-kongreß für Familienforschung kürzlich in Wien wurde das Thema „Stieffamilien” eingehend diskutiert. Veranstaltet wurde der Kongreß vom Österreichischen Institut für Familienforschung in Wien und dem Staatsinstitut für Familienforschung der Universität Bamberg (siehe dazu Furche Nr. 24/12. Juni 1997).

Teilfamilien und Stieffamilien sind mittlerweile eine Bealität, die nicht dadurch verändert wird, daß man die Augen vor ihr verschließt. Die „normale” und intakte Familie bleibt weiterhin das erstrebenswerte Modell. Aber der Wunsch entspricht nicht immer der Wirklichkeit. Das heißt zunächst, daß Menschen nicht diskriminiert werden dürfen, wenn sie zu einem alleinerziehenden Elternteil werden oder in einer neuen Familie mit Stiefkindern leben.

In einer Zeit, in der Frauen im Wochenbett oder nach den Anstrengungen vieler Geburten starben und Männer im Krieg getötet wurden, gab es andere Gründe für die Entstehung von Stieffamilien. Mit diesen Gründen kann man sich heute bereits schwer identifizieren.

Wenn aber ab dem Jahre 2000 nur noch jedes zweite Kind in der Familie aufwächst, in der es geboren wurde, dann werden wir dem anderen Kind nicht sagen können: da gehörst du eigentlich nicht hin, wo ist denn dein richtiger Vater, eigentlich kommst du aus gestörten Verhältnissen, mit dir muß man Mitleid haben, es ist ja kein Wunder, daß ... usw. Wir werden uns vielmehr ebenso auf diese Kinder und Eltern einlassen müssen, wie sich frühere Generationen auf die durch Krankheit und Tod veränderten Familien einlassen mußten.

Heute wird zwar nach wie vor ein Teil der Stieffamilien durch Wiederheirat eines verwitweten Elternteils mit Kindern gebildet, zudem breitet sich aber, eine „moderne” Form der Stieffamilie in den westlichen Industriestaaten aus. Nicht ein verstorbener Elternteil wird ersetzt, sondern zu den beiden biologischen Elternteilen tritt eine neue Person hinzu, die zumindest in einigen Belangen Elternfunktion übernimmt, analysiert die Soziologin Liselotte Wilk von der Jo-hannes-Kepler Universität Linz in ihrem Beferat beim Fachkongreß.

Neue familiäre Rollen

Stiefkinder sind heute also eher „elternreiche” Kinder. Die ursprüngliche Bedeutung von „Stief” - die im Mittelalter so viel wie „der Eltern beraubt” bedeutete - trifft nur noch auf wenige Stiefkinder zu. Die Zunahme der „modernen” Form der Stieffamilie seit den siebziger Jahren ist durch die steigende Scheidungszahl und erneute Heirat bedingt. Stieffamilien werden heute auch dadurch gebildet, daß unverheiratete Frauen mit Kindern die Ehe mit einem Mann eingehen, der nicht der leibliche Vater der Kinder ist.

Nach vorsichtigen Schätzungen dürften derzeit in Österreich etwa sechs Prozent der unter 15jährigen in einer Stieffamilie aufwachsen. In Österreich gibt es aber noch keine Daten über die verschiedenen Formen von Stieffamilien, so wie es sie für Deutschland (ohne die ehemalige DDB) bereits gibt. Das Verhältnis des Auftretens unterschiedlicher Formen von Stieffamilien in Österreich dürfte auf Grund ähnlicher Parameter bezüglich Scheidungsquote, durchschnittlicher Kinderzahl bei der Scheidung sowie Wiederverheira-tungsquote dem der ehemaligen BRD ähnlich sein. Man schätzt, daß in der RRD Ende der achtziger Jahre zehn Prozent aller Familien mit Kindern Stieffamilien waren. Der Großteil davon sind Stiefvaterfamilien, nur etwa 20 Prozent sind Stiefmutterfamilien.

Kinder in Stiefvaterfamilien wurden zu Stiefkindern:

■ 22 Prozent durch Heirat unverheirateter Mütter mit einem Mann, der nicht der Vater des Kindes ist;

■ 44 Prozent durch Heirat geschiedener Mütter mit Kindern im Haushalt;

■ 34 Prozent durch Wiederheirat verwitweter Frauen mit Kindern.

Rei Stiefmutterfamilien:

■ 20 Prozent durch Heirat geschiedener Mütter mit Kindern im Haushalt;

■ 80 Prozent durch Wiederheirat verwitweter Väter mit Kindern.

Stieffamilien haben vor allem ihre Schwierigkeiten in der Rildung einer neuen, nach außen abgrenzbaren Einheit. Nach innen geht es um eine angemessene Gestaltung sowohl der Eltern-Kind-Beziehung als auch der ehelichen Partnerbeziehung. Alle Mitglieder sollen in ein ganzheitliches System integriert werden. Dabei müssen sicherlich die einzelnen familiären Rollen neu definiert werden, die Reziehungen des Kindes zum außerhalb des Haushalts lebenden biologischen Elternteil muß konstruktiv gestaltet werden, und es muß darauf geachtet werden, daß starre Koalitionen verhindert werden.

„Böse Stiefmutter”?

Der Münchner Diplompädagoge am Staatsinstitut für Frühpädagogik, Martin Textor, sieht in einem Ausbau von pädagogischen Maßnahmen für Stieffamilien eine mögliche Unterstützung und effiziente Begleitung dieser neuen Familienform. Vorgeschichte, Erlebnisse und Erfahrungen in der Erstfamilie, im Trennungsprozeß wirken immer nach und müssen verarbeitet werden. Wichtig ist der Umgang mit der Beziehung der Kinder zum außenstehenden leiblichen Elternteil und dessen Verwandten.

Dazu die Soziologin Liselotte Wilk: „Wie weit die Bewältigung dieser Aufgabe den Stieffamilien gelingt, ist heute schwer abzuschätzen. Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet sind äußerst widersprüchlich. Ältere amerikanische Studien stellen fest, daß in Stieffamilien ein geringerer Grad an Zusammenhalt, mehr Streß und mehr negative Gefühle füreinander vorhanden sind als in Kernfamilien. Neuere Arbeiten berichten hingegen von einem hohen Grad an Zufriedenheit, einem geringen Ausmaß innerfamiliärer Konflikte und von harmonischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Stieffamilie.”

Eine österreichische Studie mit zehnjährigen Kindern (Wilk/Bacher 1994) zeigt wiederum, daß Stiefkinder ihre Familie konfliktreicher erleben als Kinder in den übrigen Familienformen. Eine mögliche Erklärung für diese Diskrepanz der Forschungsergebnisse könnte darin liegen, daß die Stieffamilie in den USA in den letzten 20 Jahren zunehmend mehr Anerkennung als spezifische Familienform erhalten hat und damit die Erfüllung der familiären Aufgaben dort heute bedeutend besser gelingt.

Der Aufbau einer befriedigenden Stiefeltern-Kind-Beziehung erfordert von beiden Seiten ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft, viel Zeit und Geduld. Besonders wenn es dem Stief-eiternteil gelingt, seine Identität zu bejahen und dem Kind der Freiraum gelassen wird, sich dem leiblichen Elternteil gegenüber loyal zu verhalten, können diese Probleme positiv bewältigt werden.

Die Stiefmutter-Kind-Beziehung gestaltet sich dabei in vielen Fällen viel schwieriger als die Stiefvater-Kind-Beziehung. Viele Stiefmütter geben an, in ihrer Aufgabe gescheitert zu sein. Diese schwierigere Situation von Stiefmüttern beruht häufig auf dem vorherrschend negativen Stiefmutterstereotyp und den unrealistischen Anforderungen und Erwartungen der Stiefmutter selbst. Sie denkt, eine „Super-Mutter” sein zu müssen, die ihre Stiefkinder sofort so liebt, wie das bei eigenen Kindern erwartet wird, sie für alles Negative, das sie erlebt haben, entschädigt und eine „Kernfamilienatmosphäre” schafft, in der alle glücklich und zufrieden sind. Diese engagierten Versuche der Stiefmutter beantworten Kinder oft negativ aus Angst vor neuerlichem Verlassen werden, weil sie die leibliche Mutter zurückgewinnen oder den Vater für sich alleine haben wollen. Häufig entsteht im Verhältnis Stiefmutter-Kind eine Spirale von Bemühungen, Ablehnung, Schuld und Frustration, die nur schwer zu durchbrechen ist.

Viele der Kinder wurden bereits vor der Stieffamiliengründung mit einer Vielzahl von kritischen Lebensereignissen (Scheidung, Wohnungswechsel, Schulwechsel, usw.) konfrontiert. An ihre Anpassungsfähigkeit wurden damit bereits hohe Ansprüche gestellt. Die Bewältigung eines weiteren kritischen Ereignisses, wie es der Übergang in eine Stieffamilie bedeutet, überfordert sie häufig.

Soziologin Wilk: „Hier wären dringend Hilfestellungen angezeigt: therapeutische Begleitung von Kindern, die einen Stiefelternteil bekommen; Kindergruppen, die gemeinsam ihr Problem bearbeiten; beratende Hilfe für die ganze Familie. Stieffamilien stellen in unserer Gesellschaft eine Familienform dar, die im allgemeinen Kindern ungünstigere Entwick-lungs- und Lebensbedingungen bietet als Kernfamilien. Nicht nur die Schwierigkeiten bei der Neugestaltung von familiären Beziehungen spielen hier eine Bolle, es ist auch die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung der Stieffamilie als Familie eigener Art, die gleichberechtigt neben anderen Familienformen stehen sollte.”

Welche Lebens- und Entwicklungschancen Kinder in Stief familien haben, wird letztlich davon abhängen, in wie weit die Gesellschaft den Stieffamilien Raum und Zeit gibt, sich als spezifische Lebensform zu verstehen. Nur wenn die Gesellschaft bereit ist, die heute bestehenden unterschiedlichen familiären Wirklichkeiten als gleichrangig neben der Kernfamilie zu akzeptieren und zu unterstützen, werden die Mitglieder anderer Familienformen die gleichen Chancen haben, ihre Lebenswelt befriedigend zu gestalten.

Lesen Sie dazu nächste Woche: Warum heute so viele Reziehungen scheitern.

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