"Ins Hier und Jetzt kommen“

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Auf einer Burma-Reise hat der gebürtige Wiener Shaohui He erlebt, was Gelassenheit bedeutet. Heute bemüht er sich um Achtsamkeit im Alltag - und um kultivierte Stille in U-Bahn-Waggons.

Etwa 20 Leute haben sich diesmal eingefunden, um zusammenzuführen, was im Grunde unvereinbar scheint: das hektische Ambiente der Wiener U-Bahn und die meditative Versenkung in sich selbst. 26 Minuten lang - von der U1-Endstation Reumannplatz bis zum anderen Ende in der Leopoldau - werden sie gemeinsam die Augen schließen und schweigen. Ohne Anleitung, jeder auf seine individuelle Art. "Wenn eine Gruppe von Menschen auf diese Weise Stille kultiviert, dann sind die anderen natürlich oft irritiert“, sagt Shaohui He, der diese so genannten "Meditations-Flashmobs“ an jedem zweiten Donnerstag im Monat über Newsletter und Facebook organisiert. Manche Neueintretende würden spontan zu flüstern beginnen, andere fluchtartig den Waggon wechseln oder sich lautstark über das kollektive Schweigen wundern. Es gebe aber auch jene, die einfach so mitmachen würden - wie unlängst eine junge Schülerin. "Wenn jemand hereinkommt“, sagt der 35-Jährige, "dann spürt er jedenfalls, dass hier etwas Ungewöhnliches geschieht.“

Atem als Anker der Aufmerksamkeit

Es ist kein banaler Aktionismus, dem sich Shaohui He verschrieben hat. Auch der reine Erholungs- oder Wellness-Effekt des Meditierens bleibt dem praktizierenden Buddhisten zu sehr an der Oberfläche. Ihm geht es im Projekt "I Meditate Vienna“ vielmehr um ein Angebot an Menschen aller Religionen und Konfessionen, sich in der Kunst der Gelassenheit und Achtsamkeit zu üben. Er selbst versucht regelmäßig "ins Hier und Jetzt“ zu kommen und alle Anhaftungen an Vergangenes und Zukünftiges abzustreifen: Dann nutzt er seinen eigenen Atem als Anker für seine Aufmerksamkeit und lässt alle anderen Gedanken und Emotionen vorüberziehen - wie Wolken im Wind.

Noch vor ein paar Jahren wären ihm solch meditative Praktiken völlig fremd gewesen. 1977 als Sohn chinesischstämmiger und in Kambodscha aufgewachsener Eltern in Wien geboren, ist er zwar auf dem Papier Buddhist, erlebt aber kaum je religiöse Praxis. "Nur wenn wir als Kinder nach China geflogen sind, um Verwandte zu besuchen, haben wir den buddhistischen Tempel besucht“, erinnert er sich. Als Schüler am Goethe-Gymnasium im 14. Wiener Gemeindebezirk ist er vom Religionsunterricht befreit. Auch in Beijing, wo er nach Abschluss seines Studiums der Technischen Mathematik ein Jahr lang Sinologie studiert und das Lesen und Schreiben in seiner Muttersprache Kantonesisch erlernt, gehen religiöse Fragen an ihm vorüber. Erst im Rahmen einer Burma-Reise kommt der junge Mann, der mittlerweile als Software-Entwickler tätig ist, mit dieser unbekannten Sphäre in Berührung. Es passiert am Silvestertag 2005, als er gerade am Marktplatz eines kleinen Dorfes zum Frühstück eine Nudelsuppe isst und mit einem alten Mann ins Gespräch kommt. "Zuerst war es ganz normaler Smalltalk“, erinnert er sich zurück, "doch dann hat er mich irgendwann gefragt, ob ich wüsste, was das Nirwana sei.“

Shaohui He weiß es nicht - und ist von den ebenso simplen wie einleuchtenden Erklärungen des alten Burmesen sofort ergriffen. Die innere Ruhe und Gelassenheit des Mannes bewegen ihn dazu, seine geplante Abreise um einen Tag zu verschieben und nach seiner Ankunft in Österreich in buddhistischen Büchern zu schmökern. In die Welt der Meditation taucht er freilich erst ein Jahr später ein, als er seinen Job endgültig kündigt und eine halbjährige Reise durch Südostasien unternimmt. Tagelang sitzt und schweigt er in einem thailändischen Kloster, doch die ersehnte, intensive Erfahrung bleibt aus. "Erst am siebenten Tag früh am Morgen, als ich überhaupt nicht damit gerechnet habe, hat mich plötzlich ein starkes Glücksgefühl erfasst“, erzählt der 35-Jährige. "Da habe ich verstanden, dass sich so etwas nicht erzwingen lässt.“

Pionier des Wandels

Seither versucht er, seinem inneren Ruf zu folgen - religiös wie beruflich: Er absolviert im Buddhistischen Zentrum am Wiener Fleischmarkt einen Einführungskurs in Meditation, macht eine Ausbildung zum Fotografen und spezialisiert sich auf Hochzeiten. Im März 2012 beginnt er schließlich nebenbei einen Lern- und Werdegang der "Pioneers of Change“, um sein Herzensprojekt umzusetzen: Meditationen im von Hektik geprägten, öffentlichen Raum zu organisieren. Zwei Monate später lädt er zur ersten U-Bahn-Meditation und füllt mit 36 Leuten fast einen ganzen Waggon.

Heute bemüht sich Shaohui He darum, regelmäßig zum Meditieren zu kommen: nicht nur in der U-Bahn mit Fremden oder Zuhause mit seiner Lebensgefährtin, sondern auch während so banaler Aktionen wie dem Fahrradfahren. "Offenes Gewahrsein“ nennt sich jener Zustand, in dem er das Strampeln seiner Füße als Anker nutzt und sich zugleich auf den Verkehr konzentriert. "Achtsamkeit beeinflusst eben mein ganzes Leben: Wie ich anderen begegne, was ich arbeite, was ich einkaufe“, sagt er lächelnd. "Und Meditation ist eine Liebeserklärung an mich selbst.“

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