Yogini Pose Yoga - © Florian Zwickl

Yoga & Embodiment: Singen hilft bei Schweine-Angst

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Unsere Autorin pilgerte einsam auf dem Franziskusweg von Florenz nach Assisi. Wie ihr Yoga dabei half, den Weg mutig und anmutig zu gehen – und über „Embodiment“ zu lernen.

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Unsere Autorin pilgerte einsam auf dem Franziskusweg von Florenz nach Assisi. Wie ihr Yoga dabei half, den Weg mutig und anmutig zu gehen – und über „Embodiment“ zu lernen.

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Angst? Ich doch nicht. Doch nicht vor so etwas. Das denke ich jedenfalls – bis zu jener Nacht, in der ich von einem Wildschwein träume, das mir in einem dunklen Wald regungslos gegenübersteht und mich anglotzt. „Vielleicht sollte ich doch Angst haben“, denke ich, als ich aus diesem Traum aufschrecke. 250 Kilometer liegen vor mir, 7500 Höhenmeter hinauf und ebenso viele hinab. Ganz allein werde ich auf dem Franziskusweg von Florenz nach Assisi pilgern. „Hast du keine Angst?“ Diese Frage haben mir fast alle gestellt, denen ich von meinen Plänen erzählt habe. „Nein, wovor?“, habe ich jedes Mal zurückgefragt – bis mir wenige Tage vor der Abreise ein Borstentier im Traum erschien.

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Kalt und windig ist es, und es regnet unaufhörlich auf den ersten Etappen der Via di Francesco, die sich hügelauf- und abwärts von der Toskana nach Umbrien schlängelt. Ich wate bis zu den Knöcheln durch dicken Schlamm, und es ist unheimlich, allein im Wald zu sein. Mein Handy hat keinen Empfang, der Wind lässt die Äste bedrohlich knacken, und genau in dem Moment, in dem ich mich frage, warum ich mir das alles eigentlich antue, grunzt es neben mir im Wald – laut und unmissverständlich. Im nächsten Augenblick stürmen drei riesige, schwarze Tiere mit Karacho aus dem Dickicht, galoppieren unmittelbar vor mir über den Waldweg und verschwinden nach einer gefühlten Ewigkeit wieder im nassen Nebel dieses düsteren Mai-Tages.

Das Nervensystem harmonisieren

„Fight, flight, freeze“ – Kampf, Flucht oder Erstarren –, diese drei Reaktionen hat unser Organismus zur Auswahl, wenn er sich in Gefahr befindet. Ich weiß das längst, aber zum ersten Mal erlebe ich „freeze“ so unmittelbar. Während ich im dunklen Wald stehe und das Gedonner der Wildschweinhufe in mir nachhallt, erstarrt mein Körper zur sprichwörtlichen Salzsäule. Ich kann mich wirklich nicht mehr bewegen. Aber halt – was habe ich im Yoga gelernt? Ach ja, Atem! Wenn sonst nichts mehr geht, ist er immer noch da. Er kann beruhigen, aktivieren und Erstarrtes in Bewegung bringen. Also atme ich meinen eingefrorenen Körper in die Weite, harmonisiere mein vegetatives Nervensystem mit ein paar gezielten Übungen und kann mich schließlich langsam wieder in Bewegung setzen.

Während ich im Wald stehe und das Gedonner der Wildschweinhufe in mir nachhallt, erstarrt mein Körper zur Salzsäule. Aber halt: Was habe ich im Yoga gelernt?

Am Abend liege ich nach einer heißen Dusche und einer großen Portion Pasta all’arrabbiata im Bett. Mein Körper ist wieder völlig aufgetaut, aber die Angst ist immer noch da. Ich will nicht zurück in den Wald. Ich will nicht die nächsten zwölf Tage lang mit schlotternden Knien toskanische Hügel hinauf- und hinunterlaufen, so malerisch sie auch sein mögen. Ich will nach Hause, in meine garantiert wildschweinfreie Heimatstadt. Doch da fällt mir das Singen ein.

Summen, Singen, Gebete oder Mantras murmeln – es gibt wohl kaum eine Religion oder spirituelle Tradition, in deren Ausübung die Stimme keine Rolle spielen würde. Aus Sicht des „Embodiment“, der Forschung zum Zusammenspiel von Körper und Geist, haben die positiven Effekte dieser Praktiken weniger mit den Inhalten der gesprochenen oder gesungenen Worte zu tun als mit der Wirkung von Rhythmus und der Vibration der eigenen Stimme auf Körper und Psyche. Zum Beispiel verlangsamt Singen unsere Gehirnwellen vom üblichen Beta-Rhythmus hin zum Alpha-Bereich. Stresshormone werden abgebaut, „Glückshormone“ ausgeschüttet, das Herz findet in den überaus gesunden Zustand der „Herzkohärenz“, und das Immun­system wird gestärkt.

Und weil meine Google-Recherche ergibt, dass lautes Singen auch Wildschweine fernhalten soll, erfinde ich tags darauf meinen persönlichen „Wildschwein-Song“. Statt Yoga-Mantras zu chanten, gröle ich diesen Song den ganzen Tag lang laut vor mich hin, während ich mich durch Wind, Wetter und über die Ufer getretene Bäche kämpfe. Ich kreiere sogar das, was Maja Storch in ihrem Buch „Spirituelles Embodiment“ als „Embodied Prayer“ bezeichnet: ein verkörpertes Gebet. Ich passe meine Schritte dem Rhythmus des Liedes an und führe Armbewegungen dazu aus. Manchmal kann ich die Schweine riechen und ihre Spuren im Schlamm sehen. Manchmal kommt die Sonne heraus. Und manchmal muss ich lauthals über mich selbst lachen. Wildschwein-Song im Wald statt Gayatri-Mantra auf dem Meditationskissen. Yoga mitten im Leben – und gerade deshalb die tiefgreifendste Praxis.

Mein Franziskusweg bietet mir viele Möglichkeiten anzuwenden, was ich auf der Yoga-Matte gelernt habe. Ich nehme meinen Körper bewusst wahr; merke, wann er eine Pause braucht, wann etwas zu essen, wann etwas zu trinken und wann einfach meine liebevolle Aufmerksamkeit in Form einer Fußmassage, einer Nackenmobilisierung oder einer Mudra (Mudras sind energielenkende Handgesten, „Yoga mit den Fingern“ sozusagen). Meine jahrelange Yoga-Praxis hat nicht nur meinen Körper stark und geschmeidig gemacht, sondern auch meinen Geist. Sie hat mich gelehrt, meine Gedanken zu beobachten und zu managen. Statt „Oh nein! Ich bin gerade 500 Höhenmeter hinabgestiegen, und jetzt muss ich wieder genau so viele hinauf!“ denke ich: „Hurra, es geht wieder bergauf!“ Und das macht einen großen Unterschied – vor allem dann, wenn sich trotz bester Ausrüstung und Vorbereitung die Blasen an den müden Füßen schmerzhaft zu Wort melden. Abgesehen von Wildschweinen treffe ich auf Skorpione, Eichelhäher und wilde Hunde. Für diese herrenlos herumstreunenden Vierbeiner ist diese Gegend bekannt und berüchtigt. Jedes Mal, wenn ich einem von ihnen begegne, ist mir mulmig zumute, aber bisher waren alle friedlich. Ob da wohl der Heilige Franziskus seine Hände im Spiel hatte?

Körper und Atem sind treue Gefährten

Kurz vor dem malerischen Städtchen Gubbio endet meine Glückssträhne. Der Weg wird von einem Zaun versperrt, auf dem ein Schild hängt, und mein dürftiges Italienisch reicht aus, um mir aus ­„cani“ und „pericoloso“ zusammenzureimen, dass es hier gefährliche Hunde gibt. Und da sind sie auch schon: zwei riesige Tiere, die auf der anderen Seite des Zaunes eine Schafherde bewachen und in furcht­erregendes Gebell ausbrechen, als sie mich bemerken. „Mut ist Anmut, unter Druck“ – dieses Zitat von Hemingway fällt mir in diesem Moment ein. Also los.

Beckenboden aktivieren! Das vertreibt die Angst und gibt Selbstvertrauen. Brustbein heben! Das schenkt Mut. Lächeln! So deplatziert es sich in diesem Moment auch anfühlen mag, es signalisiert meinem Gehirn: „Alles halb so schlimm.“ Lang und tief atmen! Das gleicht mein Nervensystem aus und macht mich gelassener. Als ich zwei, drei Minuten später das Tor auf der anderen Seite der Weide schließe, fühlt mein Rucksack sich leicht an, und mein Lächeln ist echt. Die unzähligen Stunden auf der Matte und auf dem Meditationskissen haben sich gelohnt. Ich kann meinen Körper, meinen Atem, meinen geschulten Geist nutzen, um Dinge zu tun, die mir zwar Mut abverlangen, aber das Leben groß, weit und aufregend werden lassen.

„Bruder Esel“ hat der Heilige Franziskus den Körper genannt. „Tempel der Seele“ nennen ihn Yoginis und Yogis. Und mir wird auf meinem Pilgerweg einmal mehr bewusst, welch treue Gefährten sie sind – mein Körper und mein Atem.

Die Autorin ist Coach für Positive Psychologie und die heilsame Kraft des Schreibens. Sie praktiziert Yoga seit mehr als 15 Jahren und hat zehn Jahre Yoga, Meditation und Tanz unterrichtet.

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