Madame steht für den unerreichbaren Westen

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Die Flucht aus der polnischen Tristesse beginnt als unerfüllte Liebe zur Französischlehrerin und endet in der Welt der Sprache.

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Die Flucht aus der polnischen Tristesse beginnt als unerfüllte Liebe zur Französischlehrerin und endet in der Welt der Sprache.

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Jahrelang verließ mich der Eindruck nicht, dass ich zu spät geboren war ... Während meiner frühesten Kindheit, in den fünfziger Jahren, waren die ,großen Epochen' für mich zunächst einmal die Zeiten des noch nicht lange zurückliegenden Krieges und dann die vorausgegangenen Dreißiger. Erstere erschienen mir als ein Zeitalter heroischen, ja nachgerade titanischen Ringens, die zweiten hingegen als das goldene Zeitalter der Freiheit und Unbekümmerheit."

So beginnt der Roman "Madame" von Antoni Libera, der Erlebnisse und Befindlichkeiten eines Gymnasiasten aus Warschau in der Form von autobiographischen Erinnerungen schildert. Der junge Held versucht zuerst den eigenen Mikrokosmos eines Warschauer Gymnasiums ein bisschen zu gestalten, um der "hässlichen polnischen Realität, geschaffen in düsterem Wahn von der Volksdemokratie", entfliehen zu können. Die Rede ist von der Endzeit der Gomulka-Herrschaft. Zuerst gründet er das "Modern Jazz Quartett", wofür er ein "Nicht genügend" in Betragen bekommt. Dann kommt die Zeit seiner ersten Theaterfaszination und die Gründung einer Amateur-Theatertruppe. Es gefällt dem Schuldirektor jedoch nicht , dass das Repertoire nur aus westlichen Stücken von Aischylos bis Beckett besteht. Auch diese Initiative scheitert.

Eines Tages kommt eine neue Direktorin an die Schule, die auch für die französische Sprache verantwortlich ist, eine 30-Jährige, die sich vom Rest der Lehrer wesentlich unterscheidet. Sie ist schön, kühl, elegant gekleidet und unnahbar. In der Abiturklasse übernimmt die neue "Madame la Directrice" den Französisch-Unterricht und bricht dem 18-jährigen Jüngling das Herz. Die schöne Madame verkörpert für den Ich-Erzähler die Welt des Westens, der französischen Kultur, die für den Normalsterblichen in Polen genau so unerreichbar war wie die Madame für ihren Schüler. Um ihr näher zu kommen, verwandelt sich der verliebte Jüngling in einen Amateur-Detektv, sammelt Informationen über seinen "Polar star" und erfährt vom tragischen Schicksal der geheimnisvollen Direktorin, das auf den spanischen Bürgerkrieg zurückgeht. Die Eroberung bleibt aus. Madame bekommt die Bewilligung für eine Dienstreise nach Frankreich und verlässt für immer das Land, in dem sie ihren Vater im Gefängnis verloren hat.

Der Ich-Erzähler des Romans versucht mit Hilfe der Kunst, der Poesie und der Musik das Leben zu bändigen und entdeckt die Macht und Bedeutung der Imagination. "Worte vermochten die Wirklichkeit nicht nur zu verändern, sondern sie zu kreieren und in besonderen Fällen sogar zu ersetzen". Was als "Education sentimentale" beginnt, wird zu einer Initiation in mehreren Bereichen, Einweihung in die Liebe, in das reale Leben und in die eigene Zukunft. Der junge Mann wird Schriftsteller. Das Leben in der Welt der Phantasie und der Form gibt ihm ein Gefühl der Unabhängigkeit und der Freiheit, es bewahrt ihn vor der "kommunistischen Ansteckung".

Der Roman von Antoni Libera löste in Polen heftige Diskussionen aus. Das vielschichtige Buch berührt wichtige Themen der polnischen Vergangenheit wie Anstand und Würde, Verrat und Anpassung sowie die Rolle der Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg. Antoni Libera, ein hervorragender Übersetzer und Kommentator der Werke von Samuel Beckett sowie Regisseur von über 20 Beckett-Aufführungen, überraschte mit seinem späten Romandebüt.

"Madame" wird als halb autobiographischer Roman gesehen, als ironisches Künstlerportrait des eigenen Reifungsprozesses, in dem der junge Mann von der Fiktion zur Realität findet und die Wahrheit über sich selbst erfährt, die ihm den Sinn seines Lebens vermittelt. Die Sprache, die Kunst des Wortes, die Literatur waren für den Autor tatsächlich das Refugium vor der grauen kommunistischen Wirklichkeit, "denn alles rührt von Sprache her. Alles hängt von ihr ab. Wie schon die Heilige Schrift sagt: Am Anfang war das Wort."

Madame Roman Von Antoni Libera, Aus dem Polnischen von Karin Wolff Deutscher Taschenbuchverlag, dtv premium, Müncvhen 2000, 480 Seiten, brosch., öS 248,-/e 18,02

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