Werbung
Werbung
Werbung

Bereiten bestimmte Familienkonstellationen den Boden für die Entstehung von Depressionen? Der Schweizer Psychotherapeut Josef Giger-Bütler ist davon ausgegangen - und hat seine Ansicht nun modifiziert.

Depressionen zählen zu den am weitesten verbreiteten und nach wie vor am stärksten tabuisierten psychischen Krankheiten. Nahezu jeder zehnte Österreicher leidet unter einer depressiven Erkrankung - Tendenz steigend. Nicht behandelte Depressionen sind zudem der häufigste Suizidgrund. In Deutschland nehmen sich rund 11.000 Menschen pro Jahr selbst das Leben; die Zahl der Suizidversuche wird auf das Zehnfache geschätzt. Trotz dieser bedrückenden Verhältnisse fristet das Thema "seelische Gesundheit" im gesellschaftlichen Bewusstsein vielfach ein Außenseiterdasein.

Einzig die Erschöpfungsdepression "darf" sein; sie gilt als Tribut an ein gesteigertes Lebenstempo. Hier hat ja auch jemand seinen Beitrag zum Gemeinwohl erbracht, sich aufgerieben für den Job, sich im Ehrenamt verausgabt. Aber das heißt dann konsequent nicht Depression, sondern "Burn-out". Diagnosen sind immer auch Chiffren sozialer Akzeptanz. Beim "Burn-out" spielt sogar die ökonomische Rationalität mit: "Klar, dass es einem auch einmal zuviel werden kann. Jede/r braucht einmal eine kleine Auszeit. Gönnen Sie sich einfach eine paar Tage Erholung … Aber es wäre fein, wenn sie uns bis Anfang übernächster Woche Bescheid geben, wann wir wieder mit Ihnen rechnen können!" - Im Klartext: Ein Zusammenbruch wird toleriert - wir sind ja Gut-Menschen! -, doch sollten Sie in Ihrem eigenen Interesse möglichst bald wieder funktionieren. Überfordern Sie sich, aber nicht unsere Geduld!

Risikofaktor Familie?

Überforderung heißt einer der beiden Königswege ins depressive Erleben. Der andere lautet Brüchigkeit. Für Josef Giger-Bütler sind es die entscheidenden Begriffe der Interpretation, mit denen er dem Bild der depressiven Erschöpfung gegenübertritt. Der Luzerner Psychotherapeut arbeitet seit über 30 Jahren vornehmlich mit depressiven Patientinnen und Patienten in freier Praxis. 2003 erschien im Beltz-Verlag sein Buch "Sie haben es doch gut gemeint. Depression und Familie", das rasch zu einer der meistgelesenen Publikationen über die Entstehung der Depression avancierte. Ihre Wurzeln findet Giger-Bütler in der Kindheit. Dort bereiten Familienkonstellationen und Erziehungsstile jene Verhaltensmuster vor, die sich später im Erwachsenenalter hinter depressiven Zuständen verbergen.

Den Risikofaktor "Familie" ins Spiel zu bringen, erweist sich als zweischneidiges Unterfangen: Zum einen vermag es die unmittelbar Betroffenen zu entlasten, dass ihre Muster der Selbstüberforderung nicht einfach vom Himmel gefallen sind, sondern über lange Strecken ihres Lebenswegs entstanden sind. Dort, wo in der Eltern-Kind-Beziehung andere Menschen (pflegebedürftige Geschwister oder Angehörige zum Beispiel), andere Ziele oder schlicht die Umstände (tiefe partnerschaftliche Zerwürfnisse, dauernde finanzielle Belastungen etc.) ein Zuviel an Bedeutung bekommen, entsteht ein Nährboden für depressive Handlungs-, Empfindungs- und Denkmuster. Fließt das elterliche Engagement gewollt oder ungewollt, bewusst oder nicht bewusst in solche Kanäle auf Kosten von spürbarer Geborgenheit und emotionaler Nähe, lernen Kinder in einem Zustand ständiger Überforderung zu leben. Sie müssen und haben zu funktionieren und werden dadurch auf zwanghafte Pflichterfüllung trainiert.

Pathologisierte Kindheit

Andererseits läuft dieser Blick zurück Gefahr, ein durchaus wichtiges Moment in der Krankheitsentstehung über Gebühr zu betonen und damit Kindheit insgesamt zu pathologisieren. Giger-Bütlers Theorie der Depression kann zwar schlüssig erklären, wie aus angepassten, ruhigen Kindern depressive Erwachsene werden. Solange es dabei um ein Hellhörigwerden für möglicherweise verursachende Faktoren geht, hat dies klärenden Charakter. Der Bogen wird jedoch überspannt, wenn familiäre Konstellationen mit Notwendigkeit in spätere Depressionen münden. Zudem hinkt die Theoriebildung den Verhältnissen heutiger Kindheiten - der Plural scheint der Vielzahl an Lebensformen angemessen - gewaltig nach. Giger-Bütler geht von den Erfahrungen seiner Patientinnen und Patienten aus. Deren Kindheit fand irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. Kein Wunder also, dass diese von autoritären Vätern mit überzogen hohen Erwartungen und sich aufopfernden Müttern, die ja nur "das Beste" wollten, bevölkert wird. In seinem jüngsten Buch "Endlich frei. Schritte aus der Depression" (siehe Tipp) verschiebt Giger-Bütler den Fokus von den innerfamiliären Dynamiken auf die geänderten Rahmenbedingungen: die angespannte wirtschaftliche Großwetterlage, extremer Druck auf dem Arbeitsmarkt, ein neues Rollenverständnis von Mann und Frau. "Die heutige Zeit ist eine Zeit der Verunsicherung, der Unsicherheit und der Brüchigkeit. Eine solche Zeit fordert und überfordert."

Fehlende Sicherheit, verzehrende Aktivität, ein Mangel an erfahrener Wertschätzung (ohne Vor- oder Gegenleistung!), emotionale Taubheit und ein instabiler Selbstwert lassen letztlich zuwenig Wertvolles im Leben finden, um es auch warm und geborgen zu machen. Depression ist die Krankheit der erschöpfenden Entwertung. Die Müdigkeit, die den depressiven Menschen erfasst, erfährt er als seine Existenz bedrohende Erschöpfung. Wo kein Wert mehr aufgegriffen werden kann, versiegt über kurz oder lang die Vitalität. Die Landschaft der Depression ist ein sich verengendes Tal, nebelverhangen. Steile Hänge und schroffe Felsen machen ein Entkommen undenkbar. Wenn in seltenen Momenten Licht durchbricht und majestätische Berggipfel enthüllt, kommt eine verhaltene Sehnsucht auf, dort oben zu stehen. Doch die Mühen des Aufstiegs sind unüberwindbar. Und das Licht ist stets ein Abendrot, das jeden Versuch im Ansatz scheitern lässt und ihn wenig später in kraftloses Dunkel hüllt.

Das Erleben depressiver Menschen lässt sich als Spirale der "Losigkeit" beschreiben, und zwar in allen Schattierungen: von mutlos bis lustlos, von kraftlos bis wertlos, von sprachlos bis arbeitslos. Die einzige "Losigkeit", die schmerzlich fehlt, ist die Mühelosigkeit. So sehr verebbt das Leben unter der Last der Krankheit: nichts geht mehr. Die Stärke der Bücher von Giger-Bütler liegt darin, diesem Erleben eine Sprache zu geben, dem Verstummen in der negativen Selbst- und Weltsicht Worte zu leihen, die den Betroffenen aus der Seele sprechen. Giger-Bütler ist fraglos ein Meister in der Phänomenologie der Depression, die er einfühlsam und verständlich entfaltet.

Der erste Schritt aus der Depression besteht im Zulassen der Müdigkeit, im Mut zur Schwermut, um den Teufelskreis der Überforderung zu durchbrechen. Es braucht viel Zeit, bis ein depressiver Mensch es bei sich aushalten und seine Bedürfnisse wieder wichtig nehmen kann. Für den Ausstieg aus den erschöpfenden Mustern und fatalen Denkzirkeln ist das Verstehen früherer Verhaltensstrukturen bis in die Kindheit zurück vorteilhaft. Giger-Bütler setzt hier auf die behutsame Änderung krankmachender Lebenskonzepte. Dieses Lernen verläuft nahe an den eigenen Gefühlen, bleibt aber kognitiv dominiert.

Verlorene Wertfühligkeit

Ebenso bedeutsam ist die Erneuerung einer Tuchfühlung mit der Welt über das Erleben von Wertvollem. Dies regeneriert die Ansprechbarkeit des Gemütslebens. Gerade dabei wäre Trauer ein wichtiges Thema in der Depressionstherapie, weil sie die aktive Seite der Verarbeitung eines Werteverlusts darstellt. Die andere Seite des Januskopfes ist die bis zum Überdruss vertraute Lähmung. In beiden Fällen geht es um einen Verlust, wobei die Trauernde um das Verlorene weiß und mit den Gedanken bei dem ist, was verloren gegangen ist. Der Depressive kreist um die eigene Ohnmacht und (vermeintliche) Schuld, das eigene Unvermögen und Versagen. Solange nun die Trauer über die verlorene Wertfühligkeit nicht in Gang kommt, bleibt ihm auch die Erfahrung des Tröstlichen verwehrt, die in der Wiederaufnahme von Beziehung steckt. Dieser zögernd-tastenden Rückkehr ins Leben kann die Geborgenheit familiärer Nähe förderlich sein.

Unter diesem Aspekt wollte Giger-Bütler Familie allerdings nicht thematisieren. Er wirbt für mehr wirkliches Verstehen für den steinigen Weg (latent) depressiver Menschen. Allen jenen, die das von ihm Beschriebene nur in einzelnen Momenten vorübergehender emotionaler Verstimmungen von sich kennen, rät er zur Sorgfalt im Umgang mit sich, stets bedacht, mehr zu wollen und weniger zu müssen.

Der Autor ist Assistenzprofessor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz.

Buchtipp:

ENDLICH FREI. Schritte aus der

Depression. Von Josef Giger-Bütler

Beltz-Verlag, Weinheim 2007 330 Seiten, geb., € 20,50

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung