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Der koalitionsfreie Raum

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„Demokratie ist freie Diskussion.“ Dieser bekannte Satz, der meist auf Th. G. Masaryk zurückgeführt wird, sich aber bereits bei den Vätern der angelsächsischen Demokratie im 18. Jahrhundert findet, Sollte sich gerade in diesen Tagen und Wochen neu bewahrheiten in Oesterreich, nachdem die neue Regierung sich entschlossen hat, dem freien Spiel der demokratischen Kräfte im Parlament mehr Vertrauen zu schenken, als es bisher geschehen ist. In diesem Sinne stellt „Die Öesterreichische Furche“ einen Aufsatz zur Debatte, der selbst als ein Beitrag zur Einleitung einer Aussprache gedacht ist. Die Frage einer staatspolitischen positiven Reaktivierung unseres Parlaments sollte nicht weniger Anteilnahme finden als die Neusammlung des „linken Flügels“ und die Neubildung einer christlichen Arbeiterbewegung.„Die Furche“

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„Demokratie ist freie Diskussion.“ Dieser bekannte Satz, der meist auf Th. G. Masaryk zurückgeführt wird, sich aber bereits bei den Vätern der angelsächsischen Demokratie im 18. Jahrhundert findet, Sollte sich gerade in diesen Tagen und Wochen neu bewahrheiten in Oesterreich, nachdem die neue Regierung sich entschlossen hat, dem freien Spiel der demokratischen Kräfte im Parlament mehr Vertrauen zu schenken, als es bisher geschehen ist. In diesem Sinne stellt „Die Öesterreichische Furche“ einen Aufsatz zur Debatte, der selbst als ein Beitrag zur Einleitung einer Aussprache gedacht ist. Die Frage einer staatspolitischen positiven Reaktivierung unseres Parlaments sollte nicht weniger Anteilnahme finden als die Neusammlung des „linken Flügels“ und die Neubildung einer christlichen Arbeiterbewegung.„Die Furche“

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Die parlamentarische Demokratie trägt an sich, aber besonders dort, wo das Listenwahl-recht herrscht, eine nicht unerhebliche Gefahr in sich: nämlich die, mechanisiert zu werden und die Persönlichkeit, als deren politischer Ausdruck die Demokratie geschaffen worden ist, aus ihrer natürlichen Stellung zu verdrängen. Demokratie herrscht dort, wo die Gesetzgebung dadurch zur Autonomie wird, daß niemand einem Gesetz unterworfen ist, an dessen Zustandekommen er nicht selbst, wenn auch nur indirekt, mitgewirkt hat, so daß der Wille des Gesetzgebers der Wille zumindest der Mehrheit derer ist, die dem Gesetz unterworfen sind. Diese ursächliche Verknüpfung der Freiheit der Persönlichkeit mit dem Walten wahrer Demokratie, erleidet mit der Einführung des Repräsentativ-, Systems notwendigerweise dadurch eine Einschränkung, als die Einzelperson nur in verhältnismäßig großen Zeitabschnitten und nur durch einen einmaligen Kreationsakt, durch Wahlen, an der Gestaltung de Gemeinschaftswillens mitwirken kann.

In unseren modernen Parlamenten, 2u mindest In denen des europäischen Festlandes, tritt jedoch noch eine weitere Einschränkung hinzu. Nicht nur daß die Repräsentierten in den Hintergrund treten, auch die Repräsentanten werden in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit durch die politischen Parteien beschränkt. Diese Beschränkung kommt am stärksten durch den sogenannten Klubzwang zum Ausdrück, wonach jedes Mitglied einer parlamentarischen Vereinigung von Abgeörd neten gehalten ist, bei Abstimmungen sich so zu verhalten, wie es die Mehrheit dieser Vereinigung beschlossen hat. Ist das Repräsentativsystem an sich notwendig, weil die Methoden der unmittelbaren Demokratie der regelmäßigen Unterwerfung jedes Gesetzesantrages unter die Beschlußfassung des Gesamtvolkes aus, praktischen Gründen nicht möglich ist, so ist auch dieser Zwang, der sogenannte Klubzwang, eine Notwendigkeit, der nur gewisse ethische Schranken gesetzt werden können. Die stärkere, tiefgehende weltanschauliche Aufspaltung der europäischen Völker führt dazu, daß selten aus einem Wahlgang eine Partei mit einer solch tragenden Mehrheit hervorgeht, daß sie allein die Regierungsbildung auf sich nehmen könhte. Sie muß daher mit anderen Parteien, oft mit sehr gegensätzlichen Parteien, in Kollaborar tionen treten, mit Kräften zusammenwirken, von denen sie grundlegende Meinungsverschiedenheit trennt. Ein solches Zusammenwirken ist nur möglich, wenn zwischen den kollaborierenden Parteien ein System von Abmachungen tritt, die von vorneherein den Boden für Kompromisse sichert, Zerwürfnisse weistestgehend ausschaltet und die Fragen, in denen man übereinstimmt, in den Vordergrund schiebt.

Auch die zweite Republik war genötigt, ein solches System der Vereinfachung zwischen den zwei großen staatstragenden Parteien, der Oesterreichischen Volkspartei und der Sozialistischen Partei, zu schaffen. Die Legislaturperiode 1945 bis 1949 versuchte es mit mündlichen Vereinbarungen, die darauf folgende Periode, die im Herbst 1952 ihr vorzeitiges Ende gefunden hat, ging einen Schritt weiter und legte diese Vereinbarung schriftlich in einem sogenannten Koalitionspakt nieder. Zweifellos spricht sehr viel für ein solches festgelegtes Instrument, weil es die beiden Parteien von vorneherein zu einem korrekten und Vertragstreuen Verhalten nötigt. Der Nachteil eines solchen Koalitions-paktes War aber, daß dadurch eine Ungewollt weitgehende und gefährliche Aushöhlung des parlamentarischen Lebens eintrat. Die Koalitionsparteien waren genötigt, die Auseinandersetzungen über) die Regierungsvorlagen wie über die Initiativanträge im weitestgehenden Maße in die Ausschüsse, wenn nicht sogar in den engen Rahmen der Parteienbesprechungen zu verweisen. Die dort getroffenen Entscheidungen präjudizierten naturgemäß dem Parlament. Dadurch wurde es uninteressant, im Parlament sich mit dem Gegner ausführlich auseinanderzusetzen; es Wurde auch unnötig und als koalitionsstörend empfunden, daher sank das Niveau der Verhandlungen im auffallenden Maße, und nicht mit Unrecht wurde in und außerhalb des Parlamentes darüber geklagt, daß das Parlament zur Abstimmungsmaschine herabsank, daß „in aller Regel fertig ausgehandelte Parteienbeschlüsse zur Scheinabstimmung gebracht wurden“ (Zur Problematik der Zeit, „Berichte und Informationen“, Seite 232).

Aus diesem Grunde wurde bei der Regierungsbildung 1953 der Weg der Aufstellung eines festen Koalitionspaktes, der das gesamte politische Wirken der Koalitionsparteien im Parlament umfassen sollte, vermieden. An seine Stelle wurde ein weitmaschiges Netz von Absprachen gesetzt und in ihm ausdrücklich festgehalten, daß jeder Partei ein „koalitionsfreier Raum“ gewahrt bleibt. Er ist zweifellos der bedeutendste Fortschritt, den die neue Regierungsbildung gebracht hat. Durch ihn wird dem Parlament seine alte dominierende Stellung wieder zurückgegeben und der Platz, den sich die Parteien zu seinem Nachteil angemaßt haben, wieder für die persönliche Verantwortung des Abgeordneten frei.

Ein grundlegender Irrtum der Sozialisten aller Prägungen besagt, die Demokratie vertrage es, daß sie all Schrittmacherin irgendeiner Form des Kollektivismus verwendet werden könne. Ein Irrtum, der in der Formel: Demokratie ist der Weg, Sozialismus ist das Ziel, deutlich zum Ausdruck kommt. Demokratie fordert ein unbegrenztes Bekenntnis zu ihren Grundsätzen, ein Bekenntnis auf Kündigung ist unerträglich. Wer nur Demokrat ist, solange er nur 49 Prozent ausmacht, aber sofort ins Gegenteil umzuschlagen bereit ist, wenn es ihm gelingt, 51 Prozent in einem Wahlgang für sich zu gewinnen, ist ein Pseudodemokrat. Gegen diese Pseudodemo-kratie muß dauernd angekämpft werden. Der koalitionsfreie Raum wird hierzu ein mit Vorsicht und Takt, aber verantwortungsbewußt zu gebrauchendes Instrument sein, um den einzelnen Abgeordneten, aber auch der Mehrheit des Parlamentes die Möglichkeit zu geben, ihren Willen zum Gemeirtsehaftswillen ZU erheben und nicht den, den eine Minorität hr Wege der Bindung naturgegebener Kräfte durchzusetzen beansprucht. Mit Recht erwartet die österreichische Bevölkerung, daß diese Aenderung in unserem Regierungssystem ihre Früchte trägt und wirkliche bedeutungsvolle Entscheidungen wieder im Parlament Selbst gefällt werden.

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