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Kleine winterliche Klage
Jetzt, wo der Winter sich seinem Ende zuneigt, das erste Tauwetter den Schnee von den Straßen verschwinden hat lassen, ist ein Skandal zu vermelden. Gewiß, Skandal ist ein großes Wort. Vielleicht sogar zu groß, mißt man es an der epochalen Bedeutungslosigkeit unserer heutigen Skanda-leure. Und trotzdem erscheint das nunmehr zu Berichtende mit diesem Wort durchaus zutreffend beschrieben.
Von besonderer Wichtigkeit ist im Zusammenhang mit unserem Thema die Tatsache, daß es da eine gewisse Abhängigkeit von der Jahreszeit gibt. Der Sommer hat seine Skandale und der Winter hat seine, der Herbst und der Frühling wohl ebenso. Unser Skandal ist ein Winterskandal, und damit hat er—gegenüber dem gewöhnlichen österreichischen Skandal — zumindest den Vorteil, kein Ganzjahresskandal zu sein, sondern gewissermaßen nur saisonal aufzutreten, wie die Schwammerl sozusagen, die ja auch nur sprichwörtlich aus dem Boden schießen, wenn es ordentlich geregnet hat.
Nun also zur Sache. Die Leute haben ihre warmen Mäntel und ihre festen Schuhe aus den Kästen geholt, haben sich ihre Schals um die Hälse gewickelt, tragen selten schöne, dafür meist lächerliche Hüte, verlieren Handschuhe und sind auch sonst völlig auf Kälte eingestimmt; die Gehsteige sind glatt, der Himmel grau, die Autos dreckig. Die Maronibrater stellen ihre Öfen auf.
Erinnern wir uns zurück: es war vor langer Zeit, wir waren noch klein; Kinder waren wir und trugen noch jene Handschuhe, die man nicht verlieren konnte: Sie wissen schon, diese mit einer Art Schnur zusammengebundenen Handschuhe, die dann aus den Mantelärmeln baumelten, und die wir uns heute zu tragen genierenwir verlieren sie lieber. In den Hausnischen der großen und auch kleineren Geschäftsstraßen standen die Maronibrater mit ihren Öfen. Wenn sie Kohle nachlegten, sprühten die Funken, die Hitze trat heraus, man wärmte sich. Es roch sonderbar und herzerwärmend — es war ein ganz bestimmter Geruch, erinnern Sie sich?
Man öffnete seine Maroni, wärmte sich kurz die Hände und dann den Magen. Sie müssen herrlich geschmeckt haben, sagt die Erinnerung. Die Erinnerung mag falsch sein, aber sie hat (fast) immer recht. Und heute? Wir stehen vor einem modernen Maronibra-ter-Stand. Es riecht nicht. Man schaut: tatsächlich, er heizt nicht mit Holzkohle, er hat Gas. Ganz hinten im Eck versteckt er seine Propangas-Flasche, mit der er den Ofen heizt. Verstohlen windet sich der Gasschlauch nach hinten, so als ob er nicht gesehen werden soll. So als ob der Herr Maronibrater sich schämen würde, mit Gas zu braten, obwohl er sich nicht schämt, solche Maroni trotzdem zu verkaufen.
Wir nehmen unsere Maroni, sie riechen anders, nein, sie riechen gar nicht. Und heiß sind sie auch nicht wie früher. Und außerdem: mein Maronimann, der, als ich klein war, der hat die damaligen Maroni noch ordentlich eingeschnitten, die heutigen kriegt man nicht mehr aus der Schale heraus. Und die Hälfte von den Maroni schmeißt man ohnedies weg, weil sie wurmig sind. Das hat's in meiner Kindheit auch nicht gegeben. Jede Marone hat man essen können. So war das damals.
Um nicht mißverstanden zu werden: Natürlich wird da nicht den ein, zwei verfaulten Maroni in der Tüte nachgejammert, das wäre kleinlich. Es geht darum, daß unsere Kinder um ihre zukünftigen Erinnerungen betrogen werden. Mit Propangas-Flaschen und schlecht eingeschnittenen Maroni werden sie betrogen. Und sowas ist doch ein Skandal, oder?
Wenn Sie also demnächst mit Ihren Kindern spazieren gehen, halten Sie Augen und Nase offen. Spähen Sie nach dem kleinen, roten Gasschlauch, und heben Sie prüfend die Nase in die Luft. Und wenn nicht dieser bestimmte Geruch und das Knistern der Holzkohle zu vernehmen sind, dann gehen Sie bitte lieber weiter. Ihr Kind wird es Ihnen dereinst zu danken wissen.
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