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Kubinsche Lebensmelodie
Der bibliophile Band mit einer auf 800 Exemplare begrenzten Auflage hat seinen Titel nach dem Namen eines Waldstücks auf der bayrischen Seite des Böhmerwaldes, nahe dem 1000 m hoch gelegenen Ort Waldhäuser, wo das Malerehepaar Reinhold und Hanne Koeppel lebte, sie hatten dort ein Künstlerheim geschaffen und standen in freundschaftlichem Kontakt zu den literarischen Persönlichkeiten der Nachbarschaft wie Hans Carossa in Rittsteig bei Passau und Siegfried von Vegesack in Weißenstein bei Regen, mit Hans Watzlik jenseits der böhmischen und Alfred Kubin in Zwickledt jenseits der österreichischen Grenze.
Die Bekanntschaft mit Kubin hatte 1922 begonnen, schnell entwickelte sich daraus eine Freundschaft, und schon 1923 zählte Kubin die beiden Köeppels zu dem „aller-innersten Kreis der Sympathie und Freundschaft“. Wann immer aber er bei ihnen zu Besuch war, führte ihn sein liebster Weg zu der von „Lichtungen, Wildwässern, Urgestein und gestürzten Baumriesen“ durchsetzten „Wilden Rast“. Der ihm bis dahin unbekannte Bayrische Wald erschien ihm als „das herrlichste Erlebnis der letzten Jahre“, er wurde sich bewußt, daß die „düstere menschenarme Landschaft“ dort „die eigentliche Heimat“ seiner Seele sei und daß in ihr „die tiefsten Wurzeln“ seines Wesens ruhten. So hat der Titel „Wilde Rast“ stellvertretende Bedeutung für Kubins Seelenlandschaft. Sie findet ihren Ausdruck auch in den hier veröffentlichten Briefen und Zeichnungen.
Die Freundschaft, von der Kubins Briefe zeugen, hat bis zum Tode gehalten: 1948 starb Kubins Frau, 1950 Reinhold Koeppel, 1959 Kubin. Die Korrespondenz mit Hanne Koeppel endet 1955, als das schwindende Augenlicht Kubin das Schreiben nicht mehr erlaubte. Die besondere Bedeutung der Korrespondenz liegt darin, daß sie in das sonst so abgekapselte Leben Kubins Einblick gewährt. Hier in dieser Freundschaft gibt er sich losgelöst, spricht über alle Sorgen des Alltags, auch wirtschaftlicher oder politischer Natur.
Manche für Kubin charakteristischen Lebensmelodien ziehen sich durch den ganzen Briefwechsel hindurch. Dazu gehört der Komplex des Altseins, das Gefühl der Todesnähe: „Ein fortwährendes Abschiednehmen ist's im Grunde, und das macht das Leben geheimnisvoll schön, daß es vergehend ist wie Rauch.“ So in einem Brief 1926. Ganz gleich aber, ob der 45jährige einen der ersten Briefe an Koeppel „Ihr alter Kubin“ unterzeichnet oder der wirklich alte Kubin 1952 einen Brief an Hanne Koeppel als „der trübe Alfred im 76.“ — echt wirkt jedes Wort hier wie dort, echt, weil wirklich so erlebt.
Auch idyllische Töne finden sich im Sprachschatz dieser Briefe, beispielsweise am 9. November 1923: „Wie freuen wir uns darauf, wieder einmal in Eurem gemütlichen Küchlein zu sitzen oder im Korbstuhl am feuerspeienden Ofen.“ Dazu gehört als Pendant auch die Idylle im eigenen Winkel in Zwick-ledt, ohne ein in die Welt hinausgreifendes Verlangen: „Ich bin es ja so völlig zufrieden, hier in meinem Winkel zu sein und ungestört meiner Arbeit frönen zu können. Das wünsche ich mir vom Leben, sonst nichts mehr.“ So geschrieben nicht am tatsächlichen Lebensabend, sondern vom noch nicht 50jährigen 1926.
Der unpolitische Künstler tritt aus Briefen, des Jahres 1933 hervor: „Wenn hur dem Künstler Freiheit und Möglichkeit und Luft zum Schaffen bleibt!“ „Der Zugang zu meiner Seele geht durch die Augen — und was dann .durch die Hände' wieder herauskommt, ist meine Gabe, mein Dienst am Volk.“ Während des Krieges sieht er die „psychische Hauptsache im Verdrängen der unsympathischen Zeitgeschehnisse“. Die Einstellung der Offiziellen ihm gegenüber bezeichnet er mit den Worten „bald versagend, bald gewährend“. „Indessen wächst der Baum des Ruhmes weiter“. So zitiert aus Briefen der Kriegs jähre.
Am erstaunlichsten mutet die Wahrheit der Selbstinterpretation an: „Ob ich den Lebensrest noch meistern werde? Auf jedenfall habe ich zuinnerst schrankenloses absolutes Vertrauen — nach außen jedoch an der Peripherie — der Haut meiner Alltage bin ich ein übler Hypochonder, Angstmeier, oft verstört von grauenhaftem Wahn.“ Aus dieser Spannung hat Kubin sein Werk geschaffen.
ALFRED KUBIN: „DIE WILDE RAST.“ Briefe an Reinhold und Hanne Koeppel. Nymphenburger Verlagshandlung, München 1972. Etwa 240 Seiten mit etwa 60 bisher unveröffentlichten Zeichnungen. Leinen etwa DM 55.—.
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