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An der Schattenlinie

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An ihrer Grenze werdet ihr sie erkennen: dort, an der Schattenlinie, werden sie aus sich herausgehen und sich offenbaren; dort wird sich zeigen, wer sie sind, als Künstler, als Mensch. Und nur, wer nichts gewesen ist, wird nie seine Grenze erreichen können.

Jede Kunst ist eine Kunst der Grenze, ist ein ständiger Verlust der Mitte, ein Aufgeben des Gewonnenen, ein Hinausgehen aus dem Haus, ein Waldgang in unerforschtes Gebiet, hinüber auf die „andere Seite“, über einen Strom in Niemandsland.

Alfred Kubins Kunst ist eine Kunst der Grenze. Es ist eine Kunst, die sich immer wieder selbst in Frage stellt, die die Gefährdung aufsucht, die Dämmerung, die geheimnisvollen Uebergänge, nicht die Dinge, sondern die Schatten, die sie werfen — die Grenze also, die Schattenlinie.

Alfred Kubin lebt an der Grenze. In Leitmeritz, Nordböhmen, geboren, ließ er sich, noch nicht dreißig Jahre alt, für immer auf dem Landsitz Zwick-ledt bei Wernstein am Inn nieder. Seine Heimat ist der Böhmerwald, das Grenzland zwischen Oesterreich, Bayern und der Tschechoslowakei.

Er lebt an der Wende der Zeiten; der alten nicht mehr und der neuen noch nicht angehörend. Der Tradition entwachsen, ohne in irgendeinem Avantgardismus eine neue Heimat gefunden zu haben. So siedelte er sich, sein Wesen, seine Kunst in einem Niemandsland an, das er ausgestaltet, das unter seinen Händen Gestalt und Form annimmt und seltsame Gewächse treibt.

„Es ist kein Kleines, dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts — eines großen Jahrhunderts — der Spätzeit des bürgerlichen, des liberalen Zeitalters noch angehört, in dieser Welt noch gelebt, diese Luft noch geatmet zu haben; es ist, so möchte man in Altershochmut sagen, ein Bildungsvorzug vor denen, die gleich in die gegenwärtige Auflösung hineingeboren sind, ein Fonds und eine Mitgift von Bildung, deren die später Angekommenen entbehren, ohne sie natürlich zu vermissen ...“ schreibt Thomas Mann.

Den Bildern dieses 19. Jahrhunderts begegnet Kubin im Photoatelier seines Onkels in Klagenfurt, bei dem er bis zu seinem 19. Lebensjahr in die Lehre ging; hier, in diesem Photoatelier, in der Dämmerung der Dunkelkammer, wird seine Phantasie geformt und empfängt die Eindrücke, von denen sie nie loskommt, dringt ein in den „Schlamm der Erscheinungen“, wie Klee einmal über Kubin sagte. Aus den Bildern wird in ihm Bildung, und aus der Eildung entstehen dann die Bilder, die er aufzeichnet.

„Grenzland“ heißt das älteste der Blätter, die wir in der Galerie St. Stephan sehen; es zeigt eine Art geflügelte Sphinx. Es scheint aus einer enterbten Welt zu kommen, wo das Vertraute fremd geworden ist und das Fremde nicht vertraut. Aus einer Welt, die zwar noch Bildung hat, in der aber alles Ruine geworden ist. Erinnerung, Torso. „Nero in den Ruinen“ heißt ein anderes, 1950 entstandenes Blatt. Die Welt verfällt, aber auch der Verfall hat seine Grenze. In allen Blättern von Kubin ist Wald: aus den vielen feinen, engen Strichen wächst Wald und überwächst die Ruinen.

Eine Kunst der Grenze, ausgesetzt zwischen Abend und Morgen, in der Dämmerung (der Dämmerung einer Kirche vielleicht, der Kirche in Zell am See, in der Kubin Ministrant war, in der er das „ewige Licht“ sah, ' schmal und rot), ausgesetzt zwischen Leben und Tod,, doppelgesichtig, mit dem Blick vor und zurück, nicht mehr diesseitig und noch nicht jenseitig, etwas vage, wenn auch nicht ungenau. Eine Kunst, aufgeschreckt von dem Geruch der Verwesung, der Trakl so fasziniert hat, und der Ahnung kommender Katastrophen.

Eine Kunst der Uebergänge. Der Uebergänge zur Farbe (manche Federzeichnung ist leicht aquarelliert, keine ist bunt). Der Uebergänge von den gewohnten Erscheinungen (Holzfällern etwa oder Zirkusleuten) zu den seltsamen Spukgestalten, die in Ruinen nisten und sich in Nebel hüllen, zu Totenvogel und verwundetem Greif. Der Uebergänge aber auch zu einer „humoristischen Geistesstrahlung“, die zartes Licht auf die dunkle Erde der Visionen fallen läßt.

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