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Das vergessene Problem

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Tiefenpsychologie und Erlösung. Von Wilfried Daim. Verlag Herold, Wien-München. 386 Seiten, 33 Abbildungen. Preis 118 S

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Tiefenpsychologie und Erlösung. Von Wilfried Daim. Verlag Herold, Wien-München. 386 Seiten, 33 Abbildungen. Preis 118 S

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In dem höchst bemerkenswerten Werk des Autors wird das Auslangen eines tiefenpsychologisch geschulten Geistes nach einer von der Seelenkunde der Gegenwart noch nie eingeschlagenen Richtung zur Tatsache. Das vom Autor in umsichtiger Weise Geleistete bedeutet in der Entwicklung von Tiefenpsychologie und Psychotherapie ein unumgängliches, lange fälliges, auf unbegreifliche Weise von den verschiedensten Schulen vermiedenes Ereignis.

Auch religiöse und ontologische Probleme haben Ihren psychologischen Aspekt. Der Versuch, solche Aspekte herauszuarbeiten, geht auf Kierkegaard zurück (vgl. seine Studie über die Angst und anderes). Versuche dieser Art stehen im Dienst einer existentiellen Notwendigkeit, nämlich der immer dringlicher gewordenen, die Inhalte der christlichen Offenbarung aus ihrer Distanz zum gelebten Dasein des Menschen wieder mit diesem Dasein zu verknüpfen und sie so der ohne sie richtungsunsicheren Wirklichkeit des menschlichen Lebens näherzubringen.

Von keinem Inhalt der Offenbarung gilt das in so hohem Maße wie vom Begriff der Erlösung. Dieser bildet das Kernstück der christlichen Verkündigung, aber die große Mehrheit der neuzeitlichen Menschheit weiß nicht mehr, wie diesen Begriff ins eigene Dasein umsetzen. Er wird auch für den Gläubigen vielfach nicht zum Bstimmungsgrund seines Verhaltens. Es ist darum von größter Bedeutung, wenn es gelingt aufzuzeigen, daß das menschliche Dasein grundsätzlich und überall auf Erlösung abgestellt ist. Dieses Abgestelltsein auf Erlösung ist zuerst einmal zwar ein Mysterium, aber die ontische Tatsache, die es enthält, will von der persönlichen Erfahrung des einzelnen angeeignet werden. Und so ist die Möglichkeit der Erlösung vorgebildet in dem teils zugegebenen, teils verleugneten „Erlösungs bedürfnis“ des einzelnen.

Damit ist aber bereits psychologischer Boden betreten, und jeder wird geneigt sein, einem Autor die größte Aufmerksamkeit zu schenken, der sich anheischig macht, die Phänomenologie dieses Erlösungsbedürfnisses zu entwickeln, um von dem so gewonnenen Boden fortzuschreiten zu einem tiefenpsychologischen Verständnis des realiter im Erlebnis der Einzelpersönlichkeit Vorgefundenen und Angetroffenen. Es ist die phänomenologische, von neuzeitlichen Theologen (z. B. von Romano Guardini) mit so großem Erfolg gehandhabte Methode, die erstens eine präzise Einordnung des psychologischen Untersuchungsfeldes in das Ganze des metaphysischreligiösen Offenbarungskreises gestattet, zweitens aber die „Explikation des Erlösungsbedürfnisses“ als solche möglich macht, nämlich die präzise Antwort auf die Frage nach dem „Wovon“, dem „Was“, dem „Woraufhin“ und dem „Bevor“ des Erlösungsbedürfnisses.

Fast ein Drittel des Werkes ist der phänomenologischen Grundlegung gewidmet. Allerdings spürt man bereits in diesen Untersuchungen fortlaufend die Hand des geschulten Tiefenpsychologen, der „verstehende Psychologie“ betreibt, weil es ja ohne eine solche nicht möglich ist, den existentiellen Sinngehalt der phänomenologischen Daten zu ergründen. Konsequenterweise werden also die Aspekte des vorgefundenen Erlösungsbedürfnisses befragt, es “wird die Auslegung des Phänomens der Frage nach seinem „Woraufhin“ und seinem „Wovonher“ unterstellt.

Es ist klar, daß das Vorhandensein eines Erlösungsbedürfnisses auf ein Etwas hinwejst, auf ein Verhaftendes, ein Fesselndes, ein Lähmendes, gegen das sich im Vorgefühl möglicher Befreiung das Erlösungsbedürfnis des Menschen auflehnt, wenn zuerst einmal auch auf hilflose und ohnmächtige Weise. Es ist der schon aus früheren Arbeiten des Verfassers bekannte, von Freud übernommene, aber durchaus neu verarbeitete Begriff der „Fixierung“, der in sein' psychologischen Bedeutung, tiefsinnig und umfassend zugleich gedeutet, zur Achse der Auslegung des Erlösungsbedürfnisses und seines Grundes wird.

Die Studie des Verfassers gilt allerdings dem wissenschaftlich einzig zugänglichen Brennpunkt dieses Bedürfnisses, nämlich seiner neurotischen Gestalt. Es kann nicht verschwiegen werden, daß hinter den tiefenpsychologischen Analysen der Hemmung und des Freiheitsverlustes bei neurotischen Persönlichkeiten eine anthropologische Konzeption steht, die konform mit der großen Tradition der abendländisch-christlichen Menschauffassung, als dem oft unsichtbar bleibenden religiösen Hintergrund der Darstellung, die diese bis in alle empirischen Einzelheiten hinein transparent macht für das Wesentliche, so daß man den Eindruck gewinnt, als brächten die am Neurotiker gewonnenen Einsichten nur in zugespitzter Wendung die Psychologie des erlösungsbedürftigen Menschen überhaupt zur Darstellung.

Was die uralte und doch so neuartige und originelle Sicht des Autors an anthropologischen Konsequenzen zeitigt, das veranschaulichen auf eindrucksvollste Weise die letzten Kapitel, die den „psycho-analytischen Prozeß“ als einen „Teilerlösungsprozeß“ schildern, in dem auf besonnene Weise das, was die Tiefenpsychologie hier zu leisten hat, abgehoben wird vom Ziel und Sinn einer Totalerlösung.

Zusammenfassend ist zu sagen, daß das Werk des Verfassers die größte Aufmerksamkeit der psychologischen und ärztlichen Fachgenossen verdient. Anzuerkennen ist vor allem die Kühnheit, mit der ein Psychologe ein so zentrales und nie angegangenes Problem der Anthropologie in Angriff nimmt und es mit tiefenpsychologischer Methodik in die Problematik des existierenden Menschen hinein verfolgt. Darüber hinaus aber bringt das Werk den Beweis, daß nur, wer die überbiologische und überpsychologische Methode der Menschenkunde beherrscht, auch wirklich ein guter Psychologe ist.

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