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Juri Andruchowytsch: „... die Idee, dass man mit einem Lachen besser lebt“

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Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch über den „Irrtum“ der russischen Demokratie, Unterwerfung, Selbstironie, linken Pazifismus und eine Zukunft nach dem Krieg.

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Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch über den „Irrtum“ der russischen Demokratie, Unterwerfung, Selbstironie, linken Pazifismus und eine Zukunft nach dem Krieg.

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Juri Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europäischen Autoren der Gegenwart. In seinem jüngsten Roman „Radio Nacht“ hat er die Ukraine zum Klingen gebracht – ohne sie zu nennen. Vergangene Woche war er zu Gast bei der „Buch Wien“. DIE FURCHE hat ihn zum politischen Interview gebeten.

DIE FURCHE: In Ihrem Roman „Moscoviada“ lassen Sie Vertreter aller russischer Regime über die Wiedergeburt des Imperiums und den Wunsch der Massen nach Unterwerfung phantasieren. Das klingt wie russisches Staats-TV der Gegenwart. Hätte man denn all das, was jetzt passiert in der Ukraine, erahnen können? War man blind? Oder war das ein literarischer Glücksgriff?

Juri Andruchowytsch: Eigentlich alles zusammen. Ich habe dieses Buch im Winter und Frühling 1992 geschrieben. Ich war in Bayern, ich hatte mein erstes Stipendium und ich kam aus dem neuen Land: der Ukraine. Ich hatte gerade zwei Jahre in Moskau Literatur studiert. Es gab Signale, dass viele politische Kräfte in Moskau gegen die neue Realität protestieren: Ex-Generäle der Roten Armee, diese sogenannten Patrioten Russlands; die Roten, also die Kommunisten, und die Braunen, also die Monarcho-Faschisten. Es gab diese Vereinigung gegen alle Veränderung. Ich war kein Anhänger Jelzins, aber für mich war er die Verkörperung der Hoffnung, dass Russland auch demokratisch sein kann. Das war ein Irrtum. Die Gefahr des Revanchismus konnte man spüren. Und es war spürbar, dass wir in der Ukraine mit unserem Nachbarn Probleme bekommen werden, weil der die Tatsache nicht akzeptiert, dass die Ukraine einen eigenen Weg geht.

DIE FURCHE: Es sind aber auch in der westlichen Wahrnehmung Bilder geblieben wie: „geteiltes Land“, „kleiner Bruder Russlands“ oder sogar „Kleinrussland“. Viele haben nicht verstanden, dass die Ukraine ein souveräner Staat ist. Wieso?

Andruchowytsch: Das ist keine Frage, die ich beantworten kann. Das können nur westlichen Medien. Es gab keine westliche Berichterstattung aus der Ukraine. Alle Korrespondenten saßen in Moskau und haben von dort über die Ukraine berichtet – voll mit Bildern der russischen Propaganda. Den Informationskrieg gab es auch damals.

DIE FURCHE: So wie heute. Worte sind ja nach wie vor die effektivsten Waffen Moskaus. Wenn man die russische Rhetorik betrachtet, dann ist der Himmel rosarot und der Wald blau.

Andruchowytsch: Ja, aber damals gab es eine andere Tonalität. Es ging um Verachtung. Die russischen Medien haben schon damals das Bild eines gescheiterten Staates aufgebaut, den man belacht. Das war sehr zielstrebig und konsequent. Über die Ukraine wurde entweder nichts berichtet oder Skurriles, Komisches oder Lächerliches. Und das war noch Boris Jelzins Russland, das war, bevor Putin ab dem Jahr 2000 alle Medien zentralisiert und jede freie Meinung abgestellt hat.

DIE FURCHE: Die Ukraine hat immer viel Selbstironie bewiesen. Sie nennen die ukrainische Sprache ja selbst zum Beispiel „Nachtigallen-Sprache“. Ist auch Russland zu Selbstironie fähig?

Andruchowytsch: Das denke ich nicht. Das ist etwas Essenzielles, das uns unterscheidet. Russland ist sehr pompös und selbstverliebt. Und die Ukrainer haben diese Selbstironie und die Idee, dass man mit einem Lachen besser lebt und mehr erreicht. Zweitens: Ich würde sagen, dass die Ukraine eine lange Tradition des Pluralismus hat. Eine andere Meinung zu haben, ist in der Ukraine normal. Das russische politische Modell hingegen bedeutet Zentralisierung, eine allmächtige Staatsmacht, Imperium. Und vielleicht Despotie – nicht immer, aber oft. Die ukrainische Idee ist viel eher Demokratie, Republik und Wahlen. Es gab immer eine Konkurrenz von Ideen. All das gefällt Russland nicht.

DIE FURCHE: Meinung ist eine Sache, Identität eine andere. Und es gibt ja sehr viele ukrainische Identitäten – die westukrainische, die galizische, auch die russische, die tatarische und wenn man so will eine ungarische und rumänische...

Andruchowytsch: Nein, die gibt es nicht. Regionale Identitäten gibt es natürlich, aber keine davon ist so stark wie diese allgemein ukrainische...

DIE FURCHE: Wo ist der gemeinsame Nenner?

Andruchowytsch: Die Ukraine ist ein Land, das die Idee der Zukunft vor sich hat. Das bedeutet, ein Teil Europas zu sein, integriert zu werden und ganz konkret: EU-Beitritt. Das vereinigt alle Ukrainer. Und die Sprache: Die Ukraine ist bis heute ein zweisprachiges Land. Aber die Zahl jener, die nur Ukrainisch sprechen, wächst. Diese sogenannte „Zerstückelung“ wird Geschichte sein. Was die Ukraine als Projekt für sich kreiert hat, ist ein Unitarismus. Die Ukrainer sind anpassungsfähig, und wenn es sich lohnt, dann nehmen sie einen ungarischen Pass an, um zum Beispiel frei in die EU fahren zu können. Die Ukrainer sind eben schlau.

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