Ausverkauf des Lebensraumes

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Chinas Investitionsprogramm für die Westprovinzen lockt hunderttausende Han-Chinesen an und macht die Uiguren und Tibeter zu Minderheiten im eigenen Land.

Bis vor wenigen Jahren unterschied Chongqing wenig von Dutzenden anderen Städten in China. Eine graue Metropole 1500 Kilometer westlich von Shanghai, mit Zementfabriken und Stahlhütten - doch seit kurzem ist alles anders: Ein Meer von Kränen überragt ein skurrile Skyline halbfertiger Glaspaläste, und schmutzige Ziegelviertel machen vielspurigen Stadtautobahnen und surrealistischen Apartment-Blocks Platz. Mit der schwankenden Beschaulichkeit der Flussgondeln ist es ebenfalls vorbei, seit High-Speed-Wassertaxis und neue Brücken die einzelnen Stadtteile miteinander verbinden. Die neue Boomtown liegt demnächst am Westende des 660-Kilometer-Stausees des "Drei-Schluchten-Kraftwerks" am Jangtsekiang. Seit 2003 wird gestaut und die Stadt wird bald zum größten Binnenhafen der Welt: "In zehn Jahren sind wir so weit wie Shanghai", ist sich Huang Qifan sicher. Huang, Vizebürgermeister von Chongqing, sollte es wissen, war er doch vor seiner Versetzung in den Westen Chinas verantwortlich für den rasanten Aufstieg Shanghais zu einer futuristischen Handelsmetropole.

Der Ballungsraum Chongqing ist drei mal so groß wie Belgien, hat 30 Millionen Bewohner, verzeichnet ein jährliches Wirtschaftswachstum von neun Prozent und ist der östliche Eckpfeiler von Pekings ambitiöser "Go-West"-Initiative, mit der die wachsenden Unterschiede zwischen armen und reichen Provinzen reduziert werden sollen. Zwölf Provinzen mit einer Bevölkerung von 370 Millionen Menschen - fast 30 Prozent der chinesischen Gesamtbevölkerung sollen derart mit den Segnungen der ostchinesischen Zivilisationspolitik beglückt werden. Ganzseitige Zeitungsberichte rufen zur Förderung der "industriell rückständigen" Provinzen im Westen des Landes auf und preisen die Verdienste der chinesischen Führung bei der "Entwicklung" dieser Regionen. Mit Konferenzen im In- und Ausland wird um ausländische Investoren für den Rohstoffabbau in Tibet, Xinjiang (Ostturkestan) und anderen Gebieten im Westen des Landes geworben.

Ausverkauf des Lebensraums

Die Formel ist simpel: Chinas Energiebedarf wächst jährlich um acht Prozent. Also her mit multinationalen Ölkonzernen, um die Ressourcen in Tibet und Xinjiang zu erschließen. British Petroleum (BP), Exxon (Esso) und Shell ließen sich nicht lange bitten - ungeachtet internationaler Proteste erwarb BP bereits vor fünf Jahren einen Anteil an den chinesischen Energiekonzernen Sinopec und PetroChina. Eine Milliarde Euro war dem Ölriesen die Investition wert, um die Mitkonkurrenten um den lukrativen Energiemarkt auszubremsen: Im ostturkestanischen Tarim-Becken werden die größten Erdgasvorkommen Chinas vermutet, eine Pipeline von 4200 Kilometer Länge soll das Gas von Xinjiang bis nach Shanghai bringen. Doch Wirtschaftsexperten bezweifeln die Rentabilität dieses Megaprojekts, da der tatsächliche Umfang der Gasreserven auf Spekulationen beruht.

Dass vom staatlich ausgerufenen Infrastrukturboom die chinesische Mehrheitsbevölkerung der Han nicht nur wirtschaftlich profitiert, sondern die staatliche Assimilationspolitik unter den Deckmäntelchen der "Entwicklung" vorangetrieben wird, scheint kein unerwünschter Nebeneffekt. "Go West" als neue Kampagne zum Ausverkauf des Lebensraumes widerspenstiger Minderheiten? Sowohl Tibeter als auch die in Ostturkestan lebenden Uiguren protestieren gegen den Ausverkauf der Energievorkommen, der kaum neue Beschäftigungsmöglichkeiten bringt. Da in der Ölindustrie vor allem Angehörige der Han und keine Uiguren Beschäftigung finden, wird mit dem Zuzug Zehntausender Han-Chinesen gerechnet. Die staatlich propagierte Umsiedlung macht viele Volksgruppen zur Minderheit im eigenen Land: Betrug der Bevölkerungsanteil der Han in Xinjiang 1949 vier Prozent, so sind es heute bereits 41 Prozent - der Großteil davon in Xinjiangs Hauptstadt Urumqui.

Arm am Rand der Wüste

Den turksprachigen Minderheiten bleibt das ärmliche Leben am Rande der Wüste Takla Makan, solange der berufliche Aufstieg in den Städten schwierig ist und auch die staatliche Industrie von Han-Chinesen dominiert wird. Vor allem den muslimischen Uiguren, die traditionell enge Bindungen zu ihren Landsleuten in den zentralasiatischen Nachbarstaaten Kasachstan, Kirgisien oder Tadschikistan unterhalten, nimmt die neue chinesische Freundschaft zu den ehemaligen sowjetischen Feinden jeden Rückhalt: So werden uigurische Flüchtlinge, die vor der chinesischen Repression über die Grenzen fliehen, wieder postwendend ausgewiesen.

Immer mehr Unternehmen stehen bei der Kolonisierung von Ostturkestan und Tibet Schlange. Und China versteht es nach wie vor blendend, Menschenrechtsfragen zu verdrängen und gleichzeitig lukrative Wirtschaftskontrakte zu schließen. Ob sich das regionale Investitionsmuster auf Dauer verändern wird, muss offen bleiben. Einerseits könne die Regierung nur einen begrenzten Anteil der Gesamtinvestitionen steuern, andererseits seien die Küstenregionen die entscheidende Basis für Chinas Wirtschaftsmacht, zeigen sich China-Experten skeptisch. "Es ist höchste Zeit, die Infrastrukturprogramme der letzten Jahre auf ein vernünftiges Maß zurückzuschrauben", warnt auch der chinesische Ökonom Yiping Huang. "Es gibt so viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen", meint hingegen Zheng Ho, Parteisekretär und Leiter des Jiulongpo- Industriegebiets. Die Uiguren freuen sich schon.

Der Autor ist Lehrbeauftragter am Institut für Geografie der Universität Wien.

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