Borissovs Regierung hat ihre reformatorische Maske abgelegt

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Neun Jahre nach dem EU-Beitritt Bulgariens treten die Bekämpfung der Korruption und die Reform der Justiz auf der Stelle. Nun ist auch der reformorientierte Justizminister aus Protest zurückgetreten.

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Neun Jahre nach dem EU-Beitritt Bulgariens treten die Bekämpfung der Korruption und die Reform der Justiz auf der Stelle. Nun ist auch der reformorientierte Justizminister aus Protest zurückgetreten.

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Wer bestimmt das Recht in einem demokratischen Land? Die Gesetze, das Parlament und die Bürger? Nicht so in Bulgarien, wenn es nach der Meinung des politisch Zuständigen geht. Nicht das Gesetz, sondern die Staatsanwaltschaft hätte in Bulgarien die Oberhand. Mit diesem Argument kündigte der bulgarische Justizminister Hristo Ivanov vor einem Monat seinen Rücktritt an. Ivanovs Bemühungen, einen Rahmen für eine unabhängige Justiz und eine funktionierende Staatsanwaltschaft zu schaffen, waren gescheitert.

Das wurde klar, als das bulgarische Parlament Verfassungsänderungen zur Justizreform annahm, gleichzeitig jedoch markante Punkte ablehnte. Auch die regierende konservative Gerb-Partei Bojko Borissovs hat sich gegen den Minister gestellt. Borissov selbst war nicht einmal zur Abstimmung erschienen, sondern hatte sich entschuldigt: wegen eines Fußballspiels.

Auf verlorenem Posten

Der Jurist Hristo Ivanov, der NGO-Szene zuzurechnen, war Quereinsteiger in die Politik. Auf Empfehlung von Brüssel hatte ihn Premier Borissov in sein Kabinett geholt - direkt aus dem Protestlager, als die politische Klasse in Bulgarien unter dem Druck von Dauerprotesten stand.

Und nun der Ausstieg. Konkret ging es bei den abgelehnten Vorschlägen Ivanovs um Umstrukturierung des Selbstverwaltungsorgans der Justiz. Sie zielten auf eine Abkoppelung der Justiz vom Einfluss der Oberstaatsanwaltschaft und der Politik ab.

Die Gefahr einer überstarken Staatsanwaltschaft nach dem sowjetischen Modell "Wyschinski" ist in Bulgarien groß. Die Staatsanwaltschaft würde jetzt schon walten und richten, indem sie durch Einschüchterung von Richtern die Aufträge der politisch-oligarchischen Klasse durchsetze.

Das jedenfalls ist der Vorwurf Dutzender Richter, die nach dem Rücktritt Ivanovs auf die Straße gingen, um ihm ihren Respekt zu zollen und gegen eine Verwässerung der Justizreform zu protestieren.

Auch in den Medien geleakte Mitschnitte von Telefonaten haben Zweifel gestärkt: In Bulgarien ist die Praxis der informellen Absprachen zwischen Premier Bojko Borissov, Oberstaatsanwalt Sotir Zazarov und ihm vertrauten Richtern üblich. Bestimmte Verfahren gehen an bestimmte Richter, und vor der Öffentlichkeit wird vieles vertuscht. Von Gleichstellung vor dem Gesetz kann deshalb nicht die Rede sein.

Eine Frau aus Nordbulgarien wurde zum Beispiel unlängst zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie 75 Cent zu stehlen versucht hatte. Zu der Freiheitsstrafe kommen noch die Verwaltungsund Gerichtskosten in Höhe von 700 Euro hinzu. Der Prozess wurde im Schnellverfahren abgeführt, Prozesse von großer Bedeutung für die Gesellschaft ziehen sich hingegen in die Jahre hin.

Wenn bei Verfahren gegen einflussreiche Mitglieder der Gesellschaft schließlich ein Urteil in Reichweite wäre, mangelt es nach offizieller Rechtfertigung plötzlich an Beweisen, und sie enden mit Freispruch. So geschehen beim Prozess gegen den Chef des bulgarischen Infrastrukturfonds Vesselin Georgiev.

Angeblich hatte Georgiev 2008 acht öffentliche Aufträge unter der Hand an seinen Bruder vergeben.

Aufgrund dieses Skandals verzichtete Bulgarien im selben Jahr auf EU-Hilfen in Höhe von 165 Millionen Euro. Das Verfahren gegen Georgiev wurde 2009 eingeleitet. Erst sechs Jahre später, 2015, hat das Sofioter Stadtgericht eine Entscheidung getroffen - und Georgiev unter dem Vorsitz einer umstrittenen Strafrichterin für unschuldig erklärt. Vorerst kann der Mann, der in Bulgarien als Sinnbild für Korruption gilt, frei gehen. Dabei ist er in bester Gesellschaft.

Deutlicher Nachholbedarf

Bulgarien liegt beim Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 69, obwohl es seit neun Jahren ein EU-Mitglied ist. Für Bulgarien wurde deshalb ein beispielloser Kontrollmechanismus eingeführt. Jeden Jänner veröffentlicht die EU-Kommission eine Stellungnahme zu dem Fortschritt im Kampf mit der Korruption und dem organisierten Verbrechen. Sie sind es schließlich, die den Bürgern die Früchte der Demokratie und des Wohlstands rauben. "Als Reaktion auf die Vorschläge der EU wurden in Sofia permanent Gesetze neu geschnitten, Novellen gemeistert. So ging es mit Reformen pro forma jahrein, jahraus", kommentiert der bulgarische Politologe Ivan Krastev."Im System der Justiz wurden jahrelang Veränderungen unternommen - mit einem einzigen Ziel: nämlich dass sich nichts verändert und dass die Leute auf ihren Posten bleiben. Das war eher eine Vorstellung vor der Europäischen Union, die aber nur Chaos bei den Verfahren und den Mitarbeitern in der Justiz herbeiführte." Irgendwann, so Krastev, sei es bei der Justizreform so gewesen wie auf Friedhöfen: alles begraben, und nichts regt sich mehr. Junge Richter, die versuchten, etwas zu bewegen, wurden blockiert.

Die EU war zwar einerseits sehr engagiert. Aber andererseits hatte die Staatengemeinschaft den Wunsch zu sehen, dass Bulgarien sich bewegt. Und so kam es, dass das tatsächliche Ergebnis immer weiter in den Hintergrund des Interesses rückte.

Im Moment, da die EU-Kommission wegen der Politik der polnischen Regierung mit einem Entzug der Stimmrechte wegen eines umstrittenen Mediengesetzes in Erwägung zieht, fragt man sich in Bulgarien, wo die Konsequenz der Politik Brüssels bleibt.

Ein solches Instrument hat die EU seit 2014. Es wird angewendet, sobald systemrelevante Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit bestehen. Doch Bulgariens Premier Borissov verstehe sich mit der EU-Spitze bestens und habe deshalb keine großen Folgen zu befürchten, auch bei dem zu erwartenden Bericht, findet der politische Beobachter und Kommentator Svetoslav Tersiev. Zugleich zieht er eine ziemlich ernüchternde Bilanz über die Rolle Brüssels im Reformprozess. "Die EU-Kommission verfügt jetzt über kein Druckinstrument über Bulgarien, so wie es früher etwa mit dem Schengen-Beitritt war. Die Schengen-Staaten verändern sich gerade zu umzäunten Staaten, nicht umgekehrt. Der neue Bericht wird deshalb nichts mehr als ein weiteres Zeugnis der Blamage Brüssels. Die Wenigen, die für Rechtsstaatlichkeit kämpfen, werden in ihren Bemühungen von der Kommission nicht unterstützt."

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